Amoklauf in Graz: Die Trauer verstehen – und mittragen

FILE PHOTO: Flowers and candles are seen in front of the fences of the school in Graz
Trauer ist die Lösung, nicht das Problem: Ein Wegweiser für alle Menschen, die jetzt Halt geben wollen.

Etwas ist zerbrochen – in Klassenräumen, Familien, Freundeskreisen, im öffentlichen Leben. Nach der Amoktat in Graz ist die Trauer weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus spürbar. Sie berührt kollektiv – und zeigt sich dennoch bei jedem Menschen auf eigene Weise.

Für manche wird sie zur existenziellen Erschütterung. Besonders für Eltern, deren Kind plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Wenn das geschieht, bleibt nichts, wie es war. Jede vertraute Ordnung bricht zusammen. Ein Ereignis, das alles in Frage stellt – und einen Schock auslöst, der manchmal Monate andauern kann. Nicht nur in der Familie, sondern auch bei Mitschülern, Freunden, Pädagogen.

Kollektives Mitfühlen

Es gibt jetzt viele Menschen in Österreich, die mitfühlen und mittrauern. Trauer ist nicht nur privat. Sie braucht Orte, an denen sie sichtbar werden darf. Aber auch Menschen, die weiterhin bleiben und Halt geben. Kollektive Trauer kann in Gedenkfeiern, gemeinsamen Schweigeminuten, Kerzenaktionen oder gestalteten Erinnerungsorten Ausdruck finden. „Trauern in Gruppen ist wichtig. So wie Rituale. Sie schaffen Verbindung, geben Halt – und machen sichtbar, dass ein Schmerz geteilt wird. Außerdem helfen sie, ins Tun zu kommen – gegen die Ohnmacht“, sagt Silvia Langthaler, Psychotherapeutin und Expertin für Trauerbegleitung.

„Für direkt Betroffene können professionelle Kriseninterventionsteams und Trauerbegleiter in dieser Phase stabilisierend wirken. Wobei es wichtig ist, die Schockreaktion als natürlicher Schutzmechanismus zu verstehen, weil die Psyche Zeit gewinnt, das Unerträgliche dosiert zu verarbeiten“, sagt Silvia Langthaler. In dieser Zeit sei es wichtig, „nicht in die Gefühle der Hinterbliebenen hineinzufragen.“ Achtsame Trauerbegleitung bedeutet zunächst, faktenorientiert zu bleiben, um „Erdung“ zu schaffen. Emotionale Fragen („Wie fühlen Sie sich?“, „Was ging in Ihnen vor?“) überfordern. Stattdessen gebraucht: Struktur, Orientierung und körperliche Stabilisierung.

„In den ersten Wochen geht es in den Familien ums Überleben – von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag: Wie komme ich zur Ruhe? Wie überstehe ich das alles? „Deshalb ist Krisenintervention so wichtig“, sagt Langthaler. Doch nicht nur professionelle Begleiter sind in dieser Zeit gefragt, auch Angehörige, Freunde, Nachbarn können unterstützend wirken. „Indem sie Halt geben und da sind. Jeder Mensch kann Trauerbegleiter sein“, betont die Expertin.

Oft zählt, einfach nur Tee zu kochen oder einzukaufen. Dabei sei wichtig, aktiv auf die Trauernden zuzugehen und nicht zu warten, bis sich diese melden und um Unterstützung bitten: „Das können ganz einfache Dinge sein. Etwa, indem ich einen Topf Suppe vor die Tür stelle und signalisiere, dass jemand da ist, zum Reden. Um gleichzeitig zu akzeptieren, wenn jemand nicht sprechen und gerade keinen Kontakt haben möchte.“ Man nimmt etwa jemandem für ein paar Stunden den Hund ab, kümmert sich um alltägliche Dinge. Was also wichtig ist, ist das schlichte und stete Da-Sein und Da-Bleiben, auch aktives Zuhören und ein Aushalten und Halten. Und all das über eine längere Zeit hinweg. „Dessen sollte man sich bewusst sein, denn im Moment trauert ganz Österreich mit, in wenigen Wochen werden die Ereignisse aber wieder in die Ferne rücken. Die Welt dreht sich weiter. Für Menschen, die direkt betroffen sind, allerdings nicht. Für diese ist sie stehen geblieben, und sie werden einen jahrelangen Trauerprozess durchschreiten. Wir reden hier von einem Marathon, bei dem die Trauernden das Tempo vorgeben, nicht die Gesellschaft und auch nicht das Umfeld.“

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Warum nur?

Ein Weiterleben ohne dieses Kind, Enkelkind, die Schwester, den Bruder, wo sich vor allem verwaiste Eltern viele Fragen stellen: Warum nur? Warum sie/er? Für wen lebe ich überhaupt noch? Fragen, die nicht nur den Tod betreffen, sondern auch Identität, Glaube, Beziehung, Zukunft – und das eigene Überleben. Langthaler: „Das ist alles normal, als Teil des Weges, da gibt es kein richtig oder falsch. Selbst Schuldfragen können sich stellen, bei den Eltern ebenso wie bei Schulkollegen, die überlebt haben und ihre Freunde nicht.“

Was Langthaler hier besonders wichtig ist: die bedachte Wahl der Trostworte. „Bitte keine Floskeln im Stile von ,Zeit heilt alle Wunden’, oder ,Er/sie ist jetzt an einem besseren Ort’. Auch der vielleicht gut gemeinte Gedanke ,Ich weiß, wie du dich fühlst’ ist unangebracht, weil jeder Verlust einzigartig ist.“ Stattdessen unterstützend wirkt Präsenz, trotz Sprachlosigkeit. Im Sinne eines: Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich bin da. „Wichtig ist, mitzutragen und dem Raum zu geben, für das, was ist“, sagt Silvia Langthaler. Ehrliche, einfache Sätze sind es, die am meisten berühren und wirken. Und manchmal braucht es nur eine schlichte Umarmung, die signalisiert: „Ich halte mit dir aus.“

Trauer: eine Bewegung

Das Verständnis von Trauer hat sich im Laufe der Jahre kontinuierlich verändert und weiterentwickelt. Früher galt Trauer als linearer Prozess, heute wird sie als individuelle Bewegung betrachtet. Moderne Trauerbegleitung geht weg von starren Phasenmodellen, vor allem aber der Idee des „Loslassens“, hin zu einer individuellen, beziehungsorientierten und lebensnahen Begleitung. Weder existiert ein „richtiges“ Trauern, noch ist es linear: „Menschen bewegen sich vor und zurück, in unterschiedlichen Facetten, Wellen, Schleifen“, sagt Silvia Langthaler. Das bedeutet eben auch, seine Trauer unterschiedlich ausdrücken zu können. Und: Sie wird nicht pathologisiert.

Langthaler verweist hier auf die deutsche Trauerexpertin Chris Paul, die sagt: „Trauer ist die Lösung, nicht das Problem.“ Eine Ermutigung, diese zuzulassen, weil sie kein Symptom ist, das schnell weg muss, sondern eine seelische Bewegung, durch die Menschen lernen, mit dem Verlust zu leben. Wird Trauer zugelassen und gut begleitet, bringt sie Neuorientierung, Verbindung, Integration. Ein ebenfalls neuer Aspekt ist jener der „Weiterbindung“, speziell nach einem schweren und plötzlichen Verlust zur „Unzeit“ oder unter traumatischen Umständen. Wo einst die zentrale Forderung nach einem „Abschluss“ oder einem finalen „Loslassen“ im Raum stand, um sich wieder auf das Leben „danach“ konzentrieren zu können, gelten heute Konzepte wie das des deutschen Theologen und Psychotherapeuten Roland Kachler.

Er hat selbst seinen 16-jährigen Sohn bei einem Autounfall verloren und im Rahmen des eigenen Trauerprozesses gemerkt, dass er ihn nicht hergeben und auch nicht lernen wollte, sich für immer von ihm zu verabschieden. Daraus entwickelte er ein völlig anderes Verständnis von Trauer und ein Trauermodell, das Hinterbliebenen hilft, mit dem Verstorbenen und nicht ohne ihn zu leben. „Da geht es wirklich darum, langfristig verbunden zu bleiben, auch über den Tod hinaus “, sagt Langthaler. Nicht das Loslassen steht im Fokus, sondern die Bindung: „In der Liebe des Hinterbliebenen darf die Beziehung weitergehen“, betont Kachler.

Innere Erinnerungsorte

Diese Bindung wird auf neue Weise weitergeführt, liebevoll, verinnerlicht, dauerhaft. Das kann durch innere Dialoge, Rituale, äußere und innere Erinnerungsorte sowie symbolische Handlungen geschehen. So entsteht ein neuer Ort für den verstorbenen Menschen. Einer, der trägt, tröstet und verbindet. Ein Gedenkplatz in der Wohnung, ein Baum im Garten, Briefe für den Verstorbenen. Wichtig ist, dass die Liebe weiterfließen kann, weil der Tod des geliebten Menschen die Beziehung nicht unterbricht, sondern ihren Verlauf verändert. Trauer wird als Fluss betrachtet, in dem sich die Liebe neu und anders ihren Weg bahnt.

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