Samen keimen auch noch nach dem 60-Grad-Waschgang
Orsolya Valko hängt ihre Wäsche zum Trocknen im dritten Stock gerne auf den Balkon. Eines Tages entdeckt die Biologin dort am Betonboden eine seltene Sonnenwend-Flockenblume. Der Sache muss nachgegangen werden. Also schlüpft die Wissenschaftlerin der Universität Debrecen Ungarn in Fleecesweatshirt, Jeans und Baumwollsocken. Mit vier Kollegen im Partnerlook streift sie durch die ungarische Tiefebene. Wandern für die Forschung. Jede Stunde zählt das Team, wie viele Pflanzensamen an der Alltagskleidung haften geblieben sind. Nach acht Stunden rufen Haushalt und Blumentöpfe: waschen, schleudern, einsetzen.
Ob Große Klette, Wilde Möhre, Sandbur oder Mäuse-Gerste – die Samen von Gräsern und Wildkräutern sind robuster als gedacht. In Valkos Test keimten alle 18 Arten nach einem Waschgang bei 30 Grad Celsius problemlos, bei 60 Grad Celsius waren es immer noch zehn. Es machte keinen Unterschied, ob mit Waschpulver, Waschnuss oder klarem Wasser gereinigt wurde. Das Ergebnis erstaunt auch heimische Experten.
Hohe Temperaturen
„Samen sind von Natur aus vor widrigen Umwelteinflüssen geschützt. Aber 60 Grad sind schon unangenehm heiß“, sagt Franz Essl vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien: „Solche Hitze ist bei Ausbreitungsstrategien kein Faktor.“ Derart hohen Temperaturen wie in der Waschmaschine ist Grünzeug in freier Wildbahn nicht ausgesetzt – wiewohl Pflanzen wahre Überlebenskünstler sind.
Überlebenskünstler
Für den Fortbestand suchen sich die meisten einen Partner: Sie statten ihr keimfähiges Material mit speziellen Eigenschaften aus - darunter Widerhaken, Schirmchen, klebrige Haare, fruchtigen Geschmack oder Luftpölster - und lassen es vom Wind verwehen, vom Wasser davontreiben oder auf Regentropfen tanzen. Säugetiere tragen es im Fell fort, Vögel fressen die Früchte und scheiden den Kern an anderer Stelle aus. Menschen bringen Saatgut inklusive Saatgutbegleiter aus, verbreiten Samen unbeabsichtigt mit Verkehrsmitteln oder auf der Kleidung. Weltweit sind etwa 450 Pflanzenarten identifiziert, die gut an Stoffen haften bleiben. Die meisten sind krautig. Vermutlich gibt es unter den 250.000 Gefäßpflanzenarten aber noch deutlich mehr Kandidaten, die über die Kleidung verbreitet werden können. Manch Erbmaterial überlebt jahrelang im Boden.
Stoffe
„Unsere Studie zeigt, dass wir unbeabsichtigt keimfähige Samen an neuen Orten verteilen“, sagt Orsolya Valko. Auf Fleece waren nach dem Waschgang noch 37 Prozent der Samen vorhanden, auf Baumwolle 36 Prozent, auf Jeansstoff 26 Prozent. Die abgespülten Pflanzenreste blieben zum Teil in der Maschine, zum Teil wurden sie beim Schleudern abgepumpt. „Samenverteilung über Kleidung ermöglicht die Etablierung von ortsfremden Arten in ansonsten isolierten Naturreservaten“, betont die Biologin den Naturschutz-relevanten Aspekt.
Große Distanzen
Den kennt auch Essl aus einer anderen Studie: Touristen schleppen eine hohe Anzahl an Arten in die Antarktis ein. Samen von der nördlichen Halbkugel gelangen im tiefen Profil von Wanderschuhen in klimatisch ähnliche Regionen rund um den Südpol. „Die neue Komponente an der Ausbreitung von Arten durch den Mensch ist die große Distanz“, sagt der Wissenschaftler. Dabei seien viele Neophyten, das sind nicht heimische Pflanzen, harmlos, manche optisch ansprechend, nur einige bedenklich – aus ökologischer Sicht, weil sie heimische Arten verdrängen (wie etwa die Robinie), oder aus gesundheitlichen Gründen (wie z.B. allergenes Ragweed).
Präventionsliste
Etwa 30 Prozent der Pflanzenarten in Österreich sind nicht heimisch. Von den 1100 neu etablierten Gefäßpflanzen verursachen 14 Arten wirtschaftliche Schäden, 17 sind für den Naturschutz problematisch. Die EU hat 49 Arten auf die Präventionsliste gesetzt, 21 davon haben sich hierzulande bereits ausgebreitet.
Unumkehrbarer Prozess
„Unsere Ergebnisse unterstreichen die persönliche Verantwortung bei der Verbreitung invasiver Arten“, schließt Valko. Tatsächlich gibt es kaum Möglichkeiten, den Transport von Samen an Kleidung und Schuhen über die Grenzen hinweg zu unterbinden – weder am Körper und noch viel weniger im Reisegepäck. Der 100-Grad-Celsius-Waschgang, den Samen nicht überstehen, ist heute auf wenige Kochwäsche beschränkt. So fasst denn auch Biologe Franz Essl zusammen: „Die ökologische Globalisierung hat uns erreicht. Nicht jede Art ist ein Problem. Aber sobald sie häufig ist, lässt sich der Prozess nicht mehr umkehren.“
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