Wenn verträumte Meerjungfrauen tanzen lernen

Wenn verträumte Meerjungfrauen tanzen lernen
Romeo und Julia in einer besonderen Neuinszenierung: Im Tanztheater „Ost Side Story“ zeigen Menschen mit und ohne Downsyndrom, dass Liebe keine Grenzen kennt – weder nationale, noch körperliche.

Ich bin eine Meerjungfrau!“, ruft Elena entrüstet, als Choreografin Hana Zanin sie zur Probe der Schlüsselszene aufruft. „Ich habe doch gestern geträumt, dass ich eine Meerjungfrau bin!“ – „Das ist gut. Aber jetzt träumst du, dass du Elena bist, und im Stück in Simon verliebt bist. Du bist ja eine Tänzerin. Schaffst du das?“ – „Ja!“

Die 17-jährige Elena ist die Hauptdarstellerin im Stück „Ost Side Story – Liebe kennt keine Grenzen“, eine Adaption von Shakespeares „Romeo und Julia“. Ab 4. April präsentieren mehr als 100 Tänzer mit und ohne Behinderung die berühmteste Liebesgeschichte der Welt als Tanzperformance: Darin treffen Rosi (Elena), eine alteingesessene Wienerin, und Milan (Simon), ein Einwanderer aus dem ehemaligen Ostblock, aufeinander und verlieben sich.

„Gut, wir proben jetzt die Liebesszene“, mahnt Hana Zanin die achtköpfige Übungsgruppe zur Ordnung – beim Wort Liebesszene kommt lautes Gekichere auf. Die Darsteller sind zwischen 17 und 30 Jahre alt – die meisten wurden mit Downsyndrom geboren.

„Bleibt jetzt ernst, ihr seid in einer Rolle“, mahnt Zanin noch einmal. Elena und Simon stellen sich auf und beginnen, einander zart zu berühren. Zuerst nur Handrücken an Handrücken, dann gleiten die Hände über die Arme und enden in einer liebevollen Umarmung.

Zauberhaft

Hana hat vor vier Jahren die Leitung des Vereins „Ich bin O.K.“ von ihrer Schwiegermutter Katalin Zanin übernommen – eine Wegbereiterin für die Integration von Menschen mit Downsyndrom in der Gesellschaft. Attila Zanin ist neben seiner Frau Hana künstlerischer Leiter des Vereins. Jedes Jahr bereiten sie mit ihren Mitgliedern eine große Jahresproduktion vor – zuletzt „Der Zauberer von O.K.“.

An der Tür zum Proberaum hängt ein Schild: Raum für Phantasie. Hana erklärt: „In der Welt da draußen ist alles so hektisch und gestresst – unsere Tänzer können das nicht, sie leben in ihrem eigenen Tempo und bringen mich immer wieder auf den Boden.“ Allerdings erfordert das auch viel Geduld. „Sie brauchen viele Regeln, Disziplin und wir brauchen viel mehr Zeit für alles. Unsere Qualität ist die Ausstrahlung – unsere Darsteller können nicht lügen.“

Körperhaltung

Die Vorbereitungen für „Ost Side Story“ laufen so professionell wie möglich ab – das zeigt sich schon beim Aufwärmtraining: Die Tänzer achten auf ihre Körperhaltung, die Blicke sind konzentriert nach vorne gerichtet. Sie drehen sich (fast alle in die gleiche Richtung), bleiben auf einem Bein stehen und springen hoch. „Es geht darum, ein Gefühl für die Gruppe zu bekommen. Sie lernen tanzen und gleichzeitig, auf andere Rücksicht zu nehmen“, erklärt Hana, die selbst eine professionelle Tanzausbildung hinter sich hat.

Mit der Zeit verbessern sich Kondition und Tanztechnik, doch die Tänzer erweitern auch ihre sozialen Fähigkeiten: „Die Selbstständigkeit beim Tanzen überträgt sich auf das Leben außerhalb der Gruppe.“ Zudem werden Freundschaften geknüpft, es haben sich sogar Partnerschaften entwickelt.

Während der Proben sucht Elena immer wieder die Nähe zu anderen – Berührungen und Umarmungen gehören hier für alle ständig dazu. Selbst der Fotograf wird liebevoll geherzt. „Elena, hast du gefragt, ob es in Ordnung ist, den Fotografen zu umarmen?“, fragt Hana. Ein Lächeln vom Fotografen bestätigt ihr, dass sie weitermachen darf.

Konflikte

Wo viel Liebe ist, gibt es Potenzial für Streit – im Stück stehen sich die Hawara aus Wien und die Heros aus Tschechien mit unterschiedlichen Tanzstilen gegenüber – die einen tanzen HipHop, die anderen Modern Dance. „Unsere Darsteller lernen hier auch, Konflikte selbst auszutragen. Im Alltag werden sie in schwierigen Situationen oft vom Umfeld bevormundet.“

Zum Abschluss der Liebesszene gibt Hana Simon noch Anweisungen: „Du zeigst jetzt allen, dass du mit Elena zusammen bist und dass ihr heiraten werdet.“ Simon ruft daraufhin mit erhobener Brust aus: „Wir werden jetzt heiraten!“ Hana lächelt und korrigiert ihn: „Wir erzählen das mit unserer Körpersprache, wir sind Tänzer.“ Simon versucht es noch einmal – er nimmt Elena fest in den Arm, blickt stolz in die Runde und geht mit ihr ab.

Nach der Szene greift sich Elena an den Kopf, verdreht die Augen und raunzt: „Oh Gooott, heiraten! Wer will denn sowas...“ Jetzt darf sie ohnehin wieder eine Meerjungfrau sein.

Info: „Ost Side Story – Liebe kennt keine Grenzen“ wird von 4.–13. April im Theater Akzent aufgeführt. Karten und Termine unter 01/50165-3306 oder unter www.akzent.at

1979 hatte Prof. Katalin Zanin eine Vision: Sie wollte Menschen mit Behinderung mehr Lebensqualität und persönliche Freiheit schenken. Dazu gründete sie die Tanzgruppe „Ich bin O.K.“ – der Name ist aus der Transaktionsanalyse in der Psychologie abgeleitet, deren Ziel die Akzeptanz der eigenen, sowie anderer Personen ist: „Ich bin o.k., du bist o.k.“ Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: 1984 gab es eine Einladung ins Weiße Haus in Washington, wo der Verein Österreich beim „Very Special Arts“-Festival vertrat. 2001 eröffneten O.K.-Tänzer gemeinsam mit Balletttänzern den Wiener Opernball. www.ichbinok.at

Downsyndrom

Statt 46 Chromosomen haben Menschen mit Downsyndrom 47 – das 21. Chromosom ist dreifach statt doppelt vorhanden – daher die Bezeichnung „Trisomie 21“. Dies geschieht nicht durch Vererbung, sondern durch Zufall.

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