Nobelpreis: Der alte Schwede dichtete wenig
Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden. Der Satz stammt von Friedrich Dürrenmatt. Insofern macht es keinen Sinn, den ersten Gedanken am Donnerstag um 13 Uhr, als aus Stockholm die Nachricht kam, zu verschweigen - nämlich:
Die Buchhändler werden sich halten können vor Freud'.
Irgendjemand hat einmal ausgerechnet: Tomas Tranströmer hat, seit er mit 24 als Dichter debütierte, durchschnittlich vier Texte pro Jahr geschrieben. Gedichte. Kurze Gedichte wie zum Beispiel, in der japanischen Haiku-Technik:
"Vom Dunkel getragen.
Ich begegnete einem großen Schatten /
in einem Paar Augen."
Das stammt aus dem Band "Das große Rätsel", 2005 im Münchner Hanser Verlag erschienen. 80 Seiten. Hanser hat auch "Für Lebende und Tote" über die Versöhnung zwischen äußerem und innerem Leben. 56 Seiten.
Schlaganfall
Der Literatur-Nobelpreis 2011 - mit umgerechnet 1,1 Millionen Euro dotiert - geht sozusagen an die Lyrik; zum ersten Mal seit 1996 (Wislawa Szymborska, Polen).
Er geht an einen bedeutenden Lyriker, das muss man schon dazu sagen. Mit ganz wenigen Worten schafft er Sprache.
Das Geld bleibt in Schweden. Zum achten Mal in der 100-jährigen Geschichte.
Tomas Tranströmer ist 80. Seit einem Schlaganfall vor 20 Jahren hat er das Sprechvermögen nahezu verloren. Mit seiner Frau lebt er zurückgezogen in Stockholm. Mit ihrer Hilfe hat er seine Memoiren "Die Erinnerungen sehen mich" (Hanser, 1999) sowie Gedichte geschrieben.
Tranströmer stammt aus einer Journalistenfamilie. In den 1950er-Jahren studierte er Psychologie, Literatur- und Religionsgeschichte. Als leitender Anstaltspsychologe
arbeitete er mit jugendlichen Straftätern, und dichtete nebenbei:
"Der Junge trinkt / Milch / und schläft geborgen in seiner Zelle, / eine Mutter aus Stein."
Später verdiente er sein Geld als Berufsberater in verschiedenen Arbeitsämtern. Dass damals seine Lyrik längst weltweit gerühmt wurde, änderte nichts daran. Leben kann man schwer davon.
Es sind weniger als 100 sparsame Texte, die von ihm sind. Laut Nobelpreis-Jury "hat er uns mit seinen verdichteten, transparenten Bildern einen frischen Zugang zur Realität gegeben."
Von Buchmachern vorhergesehen
Der 68er-Bewegung war das nicht aufgefallen: Sie wandte sich von ihm ab, weil seine Poesie keinen Beitrag zu den Diskussionen geleistet habe. Tranströmer hielt dagegen, nicht Ideologien kennzeichne sein Werk, sondern Visionen.
Verdächtig ist das wieder einmal: Der Londoner Wettanbieter Ladbrokes hatte Donnerstag noch Bob Dylan als Favorit Nummer 1 geführt. Drei Stunden vor Bekanntgabe aber war der Schwede auf Platz 1.
Reaktionen: "Keine Ahnung, wer das ist"
Für den behinderten Nobelpreisträger, der vom Anruf der Akademie beim Musikhören "gestört" wurde, gab seine Ehefrau die ersten Interviews: "Tomas ist unglaublich froh, aber auch überwältigt. Und überrascht. Er glaubte nicht, dass er das erleben würde."
Marcel Reich-Ranicki war auch überrascht: "Ich habe keine Ahnung, wer dieser Lyriker ist." Ob er Verständnis für die Wahl habe? "Ich glaube nicht." Reich-Ranickis langjähriger Wunschkandidat ist US-Autor Philip Roth.
Für Akademiesprecher Englund ist Tomas Tranströmer "einer der größten Poeten unserer Zeit". Im schwedischen Verlag Bonnier ist man "zu durcheinander, um das überhaupt zu begreifen". Beim Hanser Verlag beginnt man sofort mit dem Nachdrucken.
PS: In Serbien reagierte man - falsch: Man ging der "Ente" auf den Leim, wonach der Preis an den serbischen Schriftsteller und einstigen jugoslawischen Präsidenten Dobrica Cosic gehe (siehe Link unten).
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