Was in der Medizin schiefläuft

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Diagnosen und Technik sind wichtig, aber nicht alles.

Wer krank oder aber alt und dement ist, benötig mehr als nur den sachlich-fachlichen Blick auf Befunde und Diagnosen. Gerade die Schwachen, Gebrechlichen sollten im ganzheitlichen Sinn als Mensch gesehen werden, abseits von Standardritualen und Standardlösungen. Wie das gelingen kann, erzählt Prof. Giovanni Maio, Medizinethiker an der Uni Freiburg, im Gespräch mit dem KURIER.

KURIER: Ist Zuwendung in der Medizin Mangelware?

Giovanni Maio: Es fehlt an Zuwendung im medizinischen Alltag – das Fatale daran ist, dass dieser Mangel gar nicht von den Heilberufen kommt, sondern Resultat einer falschen Politik ist. Ich erlebe die Heilberufe so, dass sie sich bewusst für einen menschennahen Beruf entschieden haben und deswegen in die Pflege gehen oder Arzt werden, weil sie Kontakt mit Menschen haben und Sinnstiftendes tun möchten. Wenn sie mit dieser Motivation in die Spitäler kommen, dann fragt niemand danach. Der soziale Gehalt der Tätigkeit spielt in der Bewertung dessen, was sie tun, keine Rolle. Sie müssen funktionieren, vorgegebene Abläufe umsetzen, Patienten, so schnell es geht, durchschleusen und jedes Eingehen auf den Einzelnen hält den Betrieb nur auf. Viele Heilberufe sagen, dass sie für so eine Fließbandtätigkeit nicht angetreten sind – und damit haben sie Recht.

Was in der Medizin schiefläuft
Giovanni Maio

Was läuft da schief?

Der Grund für diese Misere ist die politische Entscheidung, Spitäler nach denselben Kriterien durchzustrukturieren wie Wirtschaftsbetriebe, ja gar wie Betriebe aus der produzierenden Industrie. Nach einer ökonomischen Perspektive ist Zeit Geld. Deshalb wird den Heilberufen politisch gewollt die Zeit weggenommen, weil sie als lästiger Verbrauch angesehen wird. Was aber für die Produktion von Autos vernünftig sein kann, ist bei der Behandlung von Patienten kontraproduktiv. Die Heilberufe können nicht mehr leisten, wofür sie angetreten sind, nämlich dem Menschen gerecht zu werden.

Die Medizin auf Wirtschaftlichkeit zu reduzieren, ist aus Ihrer Sicht also ein großes Problem.

Wenn man den sozialen Bereich rein als Wirtschaftsbereich definiert, läuft man Gefahr, dass nur das angeboten wird, was sich rechnet, wovon man sich Umsatz und Gewinn erhofft. Wir müssen die eigentliche Leistung der Heilberufe neu sehen lernen; die Leistung, dass da ein Professioneller sich um einen hilfsbedürftigen Menschen kümmert und ihn ganzheitlich betrachtet. Das Ziel der Heilberufe ist nicht Gewinnmaximierung, sondern die Verwirklichung einer Fürsorge-Rationalität: Wirtschaftliches Denken ist wichtig, damit man die Ressourcen gewinnt, die man braucht, um dem kranken und dem helfenden Menschen Raum zu geben, in dem sich eine Atmosphäre des Vertrauens entwickeln kann.

Was bedeutet Zuwendung im medizinischen Alltag konkret?

Nehmen Sie die Pflege, sie ist ein ganzheitlicher Beruf. Wer andere Menschen pflegt, möchte ihnen als Mensch begegnen und sie nicht durch Handstriche versorgen. Pflege ist die Verbindung aus Körperpflege innerhalb einer Beziehungspflege. Wenn Sie die Beziehungspflege für unerheblich erklären und die Pflege auf Handreichungen reduzieren, dann führt das zu einer Entwertung der Pflege. Im ärztlichen Bereich ist es ganz ähnlich: wenn Sie den Ärzten keine Zeit geben, ihre Patienten in ihrer Unverwechselbarkeit kennenzulernen und sie zu verstehen in ihrer individuellen Not, dann können Sie als Arzt gar nicht wissen, wie sie ihnen gerecht werden können. Die Ärzte werden dazu angehalten, Behandlungsschablonen vorzuhalten, die sie schematisch über ihre Patienten stülpen. Das ist keine Medizin, sondern eine unempathische Abfertigung. Deshalb ist es mir wichtig, auf den Gehalt und die Notwendigkeit der Beziehung hinzuweisen. Sie können ihren Patienten nur dann gerecht werden, wenn Sie sie als Symptomträger und zugleich als Menschen im Zustand der Hilfsbedürftigkeit sehen. Das geht nur über Zuwendung.

Welche Rolle spielt Zuhören?

Einen guten Rat können Sie nur geben, wenn Sie nicht nur eine Schublade ziehen, sondern als Experte zurücktreten und sich vom Patienten etwas sagen lassen. Der Patient ist der beste Experte, er braucht nur Unterstützung. Damit man weiß, wie man unterstützen, wie man Potenziale fördern kann, muss man zuhören und nicht gleich mit Ratschlägen kommen. Medizin ist ein Beruf der Sorge um den anderen, und dadurch ist Medizin die Kunst, eine angemessene Antwort auf die Not des Patienten zu finden. Diese Antwort kann nur das Resultat aufmerksamen Zuhörens sein und nicht der sturen Umsetzung einer Leitlinie.

Die moderne Medizin hat aber auch viele Vorzüge…

Man muss differenziert vorgehen. Die Medizin ist vielfältig. Es gibt Bereiche, in denen man sich auf eine Reparatur beschränken kann, ja. Und doch ist die eigentliche Leistung der Medizin nicht die Reparatur per se, sondern ihre Leistung besteht darin, zu beurteilen, wo eine Reparatur sinnvoll ist und wo ein Zuwarten, eine konservative Therapie oder einfach ein Unterlassen einer Operation das Sinnvollste ist. Medizin muss die Kunst beherrschen, zwischen sinnvollem Tun und dem genauso sinnvollen Unterlassen zu unterscheiden. Die zentrale Leistung der Ärzte ist nicht der Eingriff, sondern der gute Rat.

Es geht darum, das Gefühl zu vermitteln: Ich nehme Sie ernst, – und wahr.

Wenn man den anderen nur durchrastert, um objektive Befunde zu erheben, wird der Patient sich selber nur als Symptomträger wahrgenommen, aber nicht als Mensch anerkannt fühlen. Man muss beides tun: Die Krankheit erkennen und den krank gewordenen Menschen in seinem Kranksein verstehen.

Müsste sich die Ausbildung von Medizinern verändern?

Medizin ist eine wissenschaftlich begründete soziale Praxis, die sich dem Wohl des Patienten verschreibt. Worin dieses genau besteht, steht in keiner Statistik, in keiner Studie, in keinem Lehrbuch, sondern das gilt es im direkten Gespräch mit dem Patienten herauszufinden. Deswegen muss auch in der Ausbildung der Studierenden vermittelt werden, dass Medizin keine angewandte Naturwissenschaft ist, bei der man einfach die Gesetze der Natur umsetzt, sondern sie ist eine verständigungsorientierte Disziplin, die sowohl naturwissenschaftliches Denken braucht als auch zwischenmenschliche Qualifikationen. Medizin ist keine Technikanwendung, sondern Beziehungsarbeit. Sie ist eine Arbeit in der Begegnung mit dem Menschen, den man nicht nur zu verobjektivieren hat, sondern den man verstanden haben muss. Ich plädiere dafür, mehr in die Grundhaltung zu investieren. Ohne grundlegende Wertschätzung für den kranken Menschen wird kein Vertrauensbündnis entstehen – und genau darum geht es.

Es ist also auch ein Ruf nach mehr Ganzheitlichkeit.

Heilberufe sind Sorgeberufe. Man kann eine Ethik der Sorge nicht verwirklichen, wenn man nicht ganzheitlich zu denken lernt. Wenn die Pflegenden und die Ärzte nur das für wichtig erachten dürfen, was man dokumentieren kann, dann bewegen sie sich weg von all dem, was sie nicht messen und rechnen können, weg vom Weitsichtigen und Ganzheitlichen. Das ist gefährlich.

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