Leben ohne Krankenkasse

Leben ohne Krankenkasse
Gesundheit: US-Präsident Obama erhielt erst jüngst grünes Licht für die Pflichtversicherung für alle. In Österreich hat sie eine lange Tradition.

Jetzt hat Obama also mit Müh und Not geschafft, was in Österreich seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit ist: Die Krankenversicherung für alle. Tatsächlich sind auch hierzulande in früheren Zeiten Menschen elendiglich zugrunde gegangen, weil sie nicht das Geld hatten, zum Arzt zu gehen oder sich in Spitalspflege zu begeben.

"So oft ich mit einem Rezept in die Apotheke geschickt wurde, klagte meine Mutter, wie lange das noch dauern würde", schreibt die 1869 in eine arme Weberfamilie in Inzersdorf bei Wien geborene Adelheid Popp in ihren Jugenderinnerungen. Als ihr Vater krank wurde, verschlangen ärztliche Hilfe und Medikamente die ohnehin kargen Reserven. Nur allzu oft wurde der Tod leidender Angehöriger geradezu herbeigesehnt – damit die gesunden Familienmitglieder wieder ihre Essensrationen bekommen konnten.

Jeder Arztbesuch, jedes Medikament musste aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Adelheid Popp hatte 14 Geschwister, 10 starben früh, und immer wenn eines krank war, wurde ein anderes zur Arbeit geschickt, um für die Arztkosten aufkommen zu können. Als dann der Vater starb, mussten Adelheid und die verbliebenen Geschwister die Schule abbrechen und für den Familienunterhalt sorgen – zumal es natürlich auch keine Pensionsvorsorge gab.

Nur wenige Berufsgruppen hatten schon früh erkannt, dass ein Leben ohne Versicherungsschutz untragbar war. So schlossen sich Bergknappen im späten Mittelalter zu freiwilligen Solidargemeinschaften zusammen und zahlten kleine Beträge für den Ernstfall ein.

Im 19. Jahrhundert wurden weitere freiwillige Arbeiterkrankenkassen gegründet, doch gerade diejenigen, die der Hilfe am dringendsten bedurften, konnten sich die Beiträge nicht leisten und blieben ohne Schutz.

In diesen Tagen schleuste sich die Journalistin Kitty Sweetman für ein paar Tage in die Vettersche Flaschenkapselfabrik in Wien-Favoriten ein, um die Arbeitsbedingungen der Akkordarbeiterinnen zu studieren. Es kam immer wieder vor, dass sich junge Frauen in der Färberei durch Lacke schwere Vergiftungen zuzogen, doch keine von ihnen wagte es, auch nur einen Tag zu Hause zu bleiben, weil in diesem Fall kein Lohn gezahlt wurde. Wer zu krank war, um weiterarbeiten zu können, war auf Betteln und Hausieren angewiesen.

Entlassungen

Erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung durch den Maschinen- und Eisenbahnbau weiter voranschritt, wurden Unternehmer verpflichtet, ihren Mitarbeitern einen bis zu vierwöchigen Krankenhausaufenthalt zu zahlen. "Diese Bestimmung hatte aber einen gewaltigen Haken", erklärt Stefan Wedrac von der Wiener Gebietskrankenkasse: "Die Unternehmer hatten auch die Möglichkeit, den Erkrankten zu entlassen, womit das Gesetz nur allzu oft umgangen wurde."

Bis 1889 in Österreich endlich die Pflichtversicherung für Arbeiter eingeführt wurde. Der konservative Ministerpräsident Eduard Graf Taaffe erkannte als erster Regierungschef, dass man das Problem nicht länger ignorieren könne.

Ein Mann, der in ganz anderem Zusammenhang berühmt wurde, spielt in der Schaffung moderner Krankengesetze in Österreich eine bedeutende Rolle: Der Dichter Franz Kafka war als Beamter der Arbeiterunfallversicherungsanstalt für die Unfallverhütung am Arbeitsplatz zuständig und schilderte seine Tätigkeit so: "Was ich zu tun habe! In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen die Leute von den Gerüsten herunter, in Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus ..."

"Wieder abschaffen"

Dr. jur. Franz Kafka stellte fest, dass die Unfallvermeidung durch Sicherheitsmaßnahmen nicht nur aus humanitären Erwägungen notwendig war, sondern Staat und Betrieben auch Unsummen ersparte.

Dass es an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durchaus noch üblich war, Kinder zur Arbeit zu schicken, hatte für diese auch schwere gesundheitliche Folgen: So schildert Adelheid Popp, dass ihre Arbeit als Kind – täglich von sechs Uhr Früh bis acht Uhr Abend, auch Samstag und Sonntag und ohne jeden Urlaub – an einem mit Gas betriebenen Blasbalg einer Bronzewarenfabrik so anstrengend war, dass sie immer wieder das Bewusstsein verlor. Ärzte gaben in solchen Fällen – soweit sie überhaupt beigezogen wurden – den zynischen Rat, "Heilung durch gutes Essen und Bewegung in frischer Luft" zu finden.

Adelheid Popp schloss sich als 17-Jährige der Sozialdemokratie an, in der sie deren Gründer Victor Adler kennenlernte, der sowohl als Politiker als auch als "Armeleutdoktor" zu helfen versuchte: Er nahm seine Aufgabe, bedürftige Patienten kostenlos zu behandeln und ihnen Medikamente zu schenken, so ernst, dass er selbst verarmte und seine Ordination zusperren musste. Adelheid Popp wurde in der Ersten Republik Abgeordnete zum Nationalrat und setzte sich insbesondere für die Rechte der Frauen und der Armen ein.


Zurzeit werden die heimischen Krankenkassen zum Sparen angehalten. Dass sich aber die Grundsätze der österreichischen Gesundheitspolitik entscheidend ändern würden, ist auszuschließen. In den USA ist das hingegen nicht so sicher. Sollte der Republikaner Mitt Romney nächster Präsident werden, will er Obamas Gesundheitsreform "wieder abschaffen".

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