Inventur der Arten: Gegen das Namens-Chaos im Tierreich

Inventur der Arten: Gegen das Namens-Chaos im Tierreich
Ein gibt weniger Spezies als Bezeichnungen. WoRMS, eine Datenbank für Meereslebewesen, könnte Vorbild für ein Lexikon aller Arten sein.

1792 fand der italienische Naturforscher Giuseppe Olivi an der Küste Venedigs eine Kleine Strandschnecke und taufte sie auf Littorina saxatilis. Weil sich das Wunder der Natur besonders farbenfroh, formenreich und zwischen nordamerikanischem Atlantik und Mittelmeer noch dazu weit verbreitet zeigt, wurde es immer wieder „neu“ entdeckt – und neu benannt. So ging das bis zu 1,7 cm große Tierchen unter mehr als hundert Bezeichnungen in die Literatur ein.

Sprachlicher Wildwuchs

Die Felsenstrandschnecke ist kein Einzelfall. Es gibt wesentlich mehr Namen für die Millionen Arten, die den Blauen Planeten bevölkern, als es tatsächlich unterschiedliche Spezies gibt. Das führt nicht nur im Elfenbeinturm zu Verwirrung. Der sprachliche Wildwuchs soll daher bereinigt werden. Forscher mit österreichischer Beteiligung haben dafür kürzlich im Fachmagazin Trends in Ecology and Evolution einen kostengünstigen Lösungsansatz vorgestellt: eine zentrale Datenbank, die in internationaler Zusammenarbeit laufend befüllt und verwaltet wird. WoRMS, das World Register of Marine Species, zeigt es vor.

Meereslebewesen in WoRMS

„Wir schaffen mit WoRMS ein weltweites Inventar aller Arten im Meer. In unserer Online-Datenbank sind eine halbe Million Namen erfasst, die rund 240.000 Arten bezeichnen“, sagt Andreas Kroh vom Naturhistorischen Museum Wien, er ist derzeit Vize-Vorsitzender des angesehenen WoRMS Editorial Board. Seit mehr als zehn Jahren sorgen 500 Kollegen aus 41 Ländern dafür, dass es wie bei Littoria saxatilis nur einen Eintrag pro Spezies gibt. Die Experten kontrollieren, dass Synonyme in einem hierarchischen System klassifiziert sind und laden Verbreitungsangaben wie Bilder hoch.

„Es gibt 1000 lebende und 10.000 fossile Seeigelarten – und die Stachelhäuter sind nur ein kleines Gebiet“, geht der Paläontologe ins Detail. Er trägt ehrenamtlich ins WoRMS ein, was an neuen Erkenntnissen über sein Steckenpferd publiziert wird. „Allein 2015 sind in der größten Zeitschrift mit vorwiegend taxonomischem Inhalt 45.000 Seiten erschienen“, sagt Kroh. Auch wenn nicht alles berücksichtigt werden kann, nimmt die babylonische Sprachverwirrung ab und die vereinheitlichte Liste der marinen Arten Gestalt an. Minütlich wird im belgischen Datenzentrum aktualisiert, Meeresbiologen weltweit nützen das kostenlose Service.

Historisch bedingtes Names-Chaos

„Das Namens-Chaos ist großteils historisch bedingt. Der Zugang zu Büchern und die Untersuchungsmethoden waren früher beschränkt“, erklärt Kroh. Doch auch heute noch werden überflüssige Namen vergeben – selten aus Schlamperei, manchmal weil Literatur schlecht greifbar ist, immer wieder weil wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in Stein gemeißelt sind. Die Namensgebung selbst erfolgt – entsprechend dem Internationalen Code für Zoologische Nomenklatur – nach verpflichtenden Regeln und vielen Empfehlungen. Sinnvoller weise sind Titulierungen passend, kompakt, wohlklingend, nicht anstößig und leicht zu merken. So stehen gelegentlich Prominente – gefragt oder ungefragt – für eine neu entdeckte Art Pate.

Musterbeispiel

„Unsere Erfahrung mit WoRMS könnte entscheidend für den Erfolg eines Welt-Registers aller Arten sein“, schaut der Wiener Seeigel-Experte über sein Fach hinaus. Nicht nur Wissenschaftler würden vom Entrümpeln alter und ungültiger Tier- und Pflanzennamen profitieren. Mitunter folgenschwere Missverständnisse ließen sich verhindern: Mediziner könnten Krankheitserreger oder giftige Organismen eindeutig bezeichnen. Klare Benennungen bei Nahrungsmitteln würden mündigen Konsumenten helfen. Landwirte könnten Schädlinge gezielt bekämpfen, Naturschützer seltene Arte oder Bioinvasoren einwandfrei ansprechen. Carl von Linné (1707–1778), der geistige Vater der binären Nomenklatur in Flora und Fauna, wäre vermutlich begeistert gewesen.

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