Hashimoto: Die neue Volkskrankheit

Hashimoto: Die neue Volkskrankheit
Burn-out, Depressionen, Darmprobleme: 500.000 Österreicher - meist Frauen - sind von der Schilddrüsenerkrankung betroffen.

Der Ort des Geschehens – ein glutenfreies Lokal in Wien – ist Programm: Hier haben sich solche, die jahrzehntelange Erfahrung haben, und solche, die die Diagnose erst unlängst erhalten haben, eingefunden. Die eine ist mollig und kann nicht abnehmen, die andere ist dünn und kann nicht zunehmen; eine friert ständig, eine andere wird von Hitzewallungen geplagt; eine klagt über Herzrasen und Panikattacken, die andere über Antriebslosigkeit und völlige Apathie; Gelenksschmerzen, eingeschlafene Arme, Gedächtnisprobleme und einen kaputten Darm haben fast alle, die sich beim Hashimoto-Stammtisch eingefunden haben.

Wer jetzt an japanische Blumensteck-Freaks oder Papierfalt-Fanatiker denkt, irrt. Hashimoto ist eine Autoimmun-Krankheit, an der immer mehr Menschen leiden. Und die vertragen das eingangs erwähnte Gluten, Milchprodukte, Hülsenfrüchte und Soja oft sehr schlecht. Meist ohne es zu wissen. Der Wissensstand bei Patienten und Ärzten ist erschreckend, was einen oft jahrelangen Irrweg von Arzt zu Arzt zur Folge hat. Es sei denn, man stößt auf einen der wenigen Spezialisten.

Frauenkrankheit

„Ich habe in meiner Praxis in den vergangenen 20 Jahren etwa 20.000 Frauen mit der Diagnose Hashimoto gesehen und etwa 100 Männer“, sagt Bernd Rieger, Schilddrüsen-Experte und Facharzt für Innere Medizin mit Praxen im deutschen Bamberg und im Kärntner Wolfsberg (Bild unten). 

Hashimoto: Die neue Volkskrankheit

Ja, Hashimoto ist eine Frauenkrankheit. Schuld ist der weibliche Hormonhaushalt. „Etwa die Östrogendominanz und auch die Tatsache, dass Frauen eher höhere Prolaktinspiegel haben, insbesondere in der Stillzeit. Dieses Hormon ist auch ein Botenstoff, der das Immunsystem aktiviert und Autoimmunprozesse begünstigt“, erklärt Rieger. Kompliziert? Stimmt.

Hashimoto: Die neue Volkskrankheit

Kaputte Schilddrüse: Die chronische Immunthyreoiditis Hashimoto ist eine Autoimmunerkrankungen und häufigste Ursache einer Schilddrüsenunterfunktion. Durch ein fehlgeleitetes Immunsystem wandern Abwehrzellen  in die Schilddrüse ein und zerstören diese Zelle für Zelle.  Frauen erkranken deutlich häufiger.

1912  hat der japanische Arzt Hakaru Hashimoto die Krankheit erstmals beschrieben.4 % der Österreicher sind mindestens betroffen – Tendenz steigend. Zahlen deutscher Studien schwanken  von 4 bis 12 %.

Auch die Frage nach der Zahl der Betroffenen ist kaum zu beantworten: „Geschätzt 500.000 Österreicher haben Antikörper und eine schleichende Entzündung der Schilddrüse. Nicht alle brauchen Hormone, weil erst bei einem Verlust von mehr als zwei Drittel des Schilddrüsengewebes eine Unterfunktion droht“, sagt Rieger. Wenn die Schilddrüse zu klein wird, erlebt man eine Art Burn-out. „Es herrscht ein allgemeiner Hormonmangel, auch die Nebenniere, unsere wichtigste Stressdrüse, funktioniert nur mehr auf Sparflamme.“ So, als wäre Ihrem Auto das Benzin ausgegangen. Nichts geht mehr. „Sie sind abgeschlagen, erschöpft, immer müde, nicht mehr leistungsfähig. Die Körpertemperatur sinkt, alle Körperfunktion verlangsamen sich“, sagt der Schilddrüsenexperte.

Hashimoto-Stammtisch

Am Hashimoto-Stammtisch klingt das so: „Man wird nicht ernst genommen.“ „Ich habe so viele Wehwehchen, dass ich es schon für völlig normal halte.“ „Ich wurde auf Burn-out behandelt und mit Psychopharmaka vollgestopft. Dabei habe ich Hashimoto.“

„So eine Entzündung erfasst nicht nur die Schilddrüse, sondern auch die benachbarten Strukturen“, sagt Rieger. Meist ist der ganze Körper, das ganze Leben betroffen. Weil die Schilddrüse zu wenig oder gar keine Hormone mehr produziert, brauche man einen guten Hormonersatz, „wo die etwa 30 Hormone der Schilddrüse schon fertig gebildet eingenommen werden“. Rieger ist kein Freund von synthetisch produzierten Produkten, die nur ein, maximal zwei Schilddrüsenhormone beinhalten, aus denen – so die Theorie – der Körper alle anderen Hormone bilden soll.

„Dann brauche ich einen hohen Vitamin-D-Spiegel, einfach weil dieses Hormon die Nebenniere und das gesamte Hormonsystem sehr gut unterstützt sowie Wachstumsreize für eine kleine Schilddrüse setzt. Und ich brauche eine Heilstrategie für den Darm. Gesünder, schadstofffreier, weniger belastend essen, Kleber wie Gluten und Lektine vermeiden, damit ein gutes Mikrobiom entsteht, das das Immunsystem schont“, rät Rieger. „Man stirbt an einer Hashimoto nicht, aber das Leben auf Sparflamme ist auch sehr quälend. Kommen dann wieder Hormone in den Körper, ist das ein herrliches Gefühl.“

 

 

Was Sie selbst tun können

„Wer die Diagnose gerade erhalten hat, sollte einen Arzt aufsuchen, der den Schilddrüsenultraschall beherrscht und zumindest neben der Verordnung von synthetischen Hormonen auch Schilddrüsenextrakt in petto hat“, rät Bernd Rieger, der  sein Ratgeberbuch „Hashimoto-Thyreoiditis richtig behandeln“ gratis zur Verfügung stellt (ebooks-rieger.de). Auch die richtige individuelle Dosierung von Jod sollte der Arzt kennen. Rieger: „So wie es aussieht, ist der Heilweg bei dieser Krankheit ein persönlicher, und wenn Sie als Betroffene hier bei der Therapie das Heft in der Hand haben, kommen Sie schneller voran.“


Das Problem scheint also erkannt: Derzeit findet in Berlin die 3. Deutsche Hormonwoche der Gesellschaft für Endokrinologie statt. Hormone sind chemische Botenstoffe des Körpers. Sie steuern  Drüsen sowie Organe und damit alle lebenswichtigen Funktionen im Körper: Blutdruck, Atmung, Stoffwechsel, Ernährung und Körpertemperatur. Hormonstörungen und Stoffwechselerkrankungen sind weit verbreitet: Adipositas, Diabetes mellitus, Schilddrüsenfunktionsstörungen wie Hashimoto und Morbus Basedow, Osteoporose, Bluthochdruck, Wachstumshormonmangel  belasten unzählige Menschen. „Der Informations- und Beratungsbedarf all dieser Patienten ist hoch“, sagt  Sven Diederich, der Vizepräsident der Gesellschaft für Endokrinologie. Die neue Kampagne „Hormongesteuert?!“ soll jetzt gegensteuern.

Susann Goldau tut das längst. Auch sie hat sich mit ihrer Hashimoto allein gelassen gefühlt: „Meine Beschwerden hatten mein Leben in der Hand, und ich fragte mich, ob das Leben so noch lebenswert sei.“ Sie begann, Bücher sowie Studien zu durchforsten und nach den besten Ärzten zu suchen. „Und tatsächlich fand ich wissenschaftlich fundierte, erprobte Ansätze und konnte meine Beschwerden um 80 % reduzieren. 90 % dieser Ansätze funktionieren bei allen Autoimmunerkrankungen, weil die Ursachen die gleichen sind.“
2017 hat Goldau einen Online-Kongress mit mehr als 20.000 Teilnehmern organisiert. Daraufhin wurde sie bestürmt, das zu wiederholen:  Der nächste kostenlose Hashimoto-Online-Kongress findet von 28. September bis 8. Oktober 2018 statt. 10 Tage, 30 Experten, 30 Themen rund um die neuesten Erkenntnisse zu Hashimoto.  https://autoimmunportal.de/hashimotokongress/

BUCHTIPPS
Bernd Rieger: „Hashimoto-Thyreoiditis richtig behandeln“, ebooks-rieger.de, gratis
Datis Kharrazian: „Schilddrüsenunterfunktion und Hashimoto anders behandeln: Wenn Sie sich trotz normaler Blutwerte schlecht fühlen“, VAK-Verlag, 18,99 €
Brakebusch, Heufelder: „Leben mit Hashimoto-Thyreoiditis“,  Verlag Zuckschwerdt, 17,00 €

 

 

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