Zeitparadoxon: Warum die Jahre schneller vergehen, je älter wir werden
Ein weiteres Jahr neigt sich dem Ende zu, und viele fragen sich: Wo ist die Zeit geblieben? Eben noch lag man in der Sonne, jetzt steht man in der Kälte, das Feuerwerk betrachtend. Gerade um Weihnachten und Silvester wird das Gefühl besonders deutlich, dass die Zeit mit zunehmendem Alter immer schneller vergeht. Doch warum ist das so? Der Medizinpsychologe und kognitive Neurowissenschaftler Marc Wittmann, der seit mehr als 30 Jahren die menschliche Zeitwahrnehmung erforscht, hat dazu Antworten.
Bereits 2005 zeigte Wittmann in einer Studie, dass vor allem die vergangenen zehn Jahre unsere subjektive Wahrnehmung prägen. „In den 20ern, 30ern, 40ern und 50ern scheint die Zeit stetig schneller zu vergehen. Erst im Alter von 60 bis 70 Jahren erreicht dieser Effekt ein Plateau“, erklärt Wittmann. Besonders Routine spiele dabei eine entscheidende Rolle.
Routine: Der „Zeitkiller“
„Routine ist ein Zeitkiller“, betont Wittmann. Unsere Wahrnehmung der Zeit in der Rückschau hängt stark von Gedächtniseindrücken ab. Je mehr neue Erlebnisse wir in einem Zeitraum erfahren, desto länger erscheint er uns später. „Das kennen wir alle: Ein ereignisreiches Wochenende mit Freunden kommt uns im Nachhinein deutlich länger vor als ein routinierter Alltag.“
Diese Dynamik bestätigten auch die Forscherinnen Dinah Avni-Babad und Ilana Ritov in einer Studie mit Strandurlaubern: Die ersten Urlaubstage wirkten gedehnt, da viele neue Erinnerungen entstanden. Doch je länger der Urlaub andauerte und sich Routinen einstellten, desto schneller verging die Zeit subjektiv. Ähnlich verläuft es über das gesamte Lebensalter hinweg: „Als Teenager oder junger Erwachsener erleben wir viele einprägsame ‚Erstmals‘. Doch irgendwann stellen wir fest: Ich wohne seit Jahrzehnten am gleichen Ort, habe den gleichen Job, die gleichen Freunde. Ohne neue Eindrücke vergeht die Zeit gefühlt schneller“, so Wittmann.
Gefühle beeinflussen die Zeitwahrnehmung
Auch unsere Emotionen spielen eine Rolle. „Untersuchungen zur Corona-Pandemie haben gezeigt, dass Zeit langsamer vergeht, wenn es Menschen schlecht geht. Aber es kann auch das Gegenteil der Fall sein“, erklärt Wittmann. So empfand er sein erstes Jahr in San Diego als außergewöhnlich lang, weil alles neu war – und erinnert sich noch heute gern daran. Neue Umgebungen und intensive Gefühle können die Zeit subjektiv dehnen.
Sogar die „Zeit zwischen den Jahren“ zeigt diese Effekte: Wer in der Weihnachtszeit Traditionen pflegt oder Ruhe sucht, erlebt diese Tage oft als kurz und flüchtig. Hingegen können neue Erfahrungen, wie ein Skiurlaub an einem unbekannten Ort, die Zeit subjektiv verlängern. Doch wie lässt sich das Gefühl, dass die Zeit „davonläuft“, abmildern? Wittmann empfiehlt, das Leben immer wieder bewusst zu verändern: „Rituale geben Sicherheit, aber Abwechslung schafft neue Eindrücke. Sprechen Sie mal mit dem Nachbarn, den Sie sonst ignorieren, oder probieren Sie etwas Neues. Das erzeugt einen Neuartigkeitseffekt, der die Zeit verlangsamt und das Lebensgefühl verbessert.“
Auch in Situationen, in denen sich Minuten wie Kaugummi ziehen – etwa in der Schlange an der Kasse – hat Wittmann einen Tipp: „Nutzen Sie die Zeit für sich selbst. Überlegen Sie, wie Ihr Tag lief oder was Sie noch vorhaben. Das nennt man kognitives Restrukturieren – eine Art Meditation im Alltag. Selbst nervige Momente können so entspannend werden.“
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