Wortflüssigkeit als Schlüssel für ein langes Leben

Lachende Senioren sitzen im Freien
Wer im Alter sprachgewandt ist, lebt statistisch gesehen länger. Die Fähigkeit, in kurzer Zeit viele Tiernamen zu nennen, ist ein Hinweis auf die verbleibende Lebenszeit.
  • Wortflüssigkeitstests sind präzise Indikatoren für die Lebenserwartung im hohen Alter.
  • Studie fand, dass Personen mit hoher Wortflüssigkeit im Durchschnitt fast neun Jahre länger lebten.
  • Die komplexen kognitiven Prozesse hinter der Wortflüssigkeit spiegeln die allgemeine Hirngesundheit wider.

Kann man an der Anzahl der Tiernamen, die ein Mensch in eineinhalb Minuten aufzählen kann, ablesen, wie lange er noch leben wird? Eine neue internationale Studie legt genau das nahe. Forscherinnen und Forscher rund um Paolo Ghisletta von der Universität Genf und dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin haben Daten der bekannten Berliner Altersstudie ausgewertet – mit einem überraschenden Ergebnis: Die sogenannte Wortflüssigkeit ist ein besonders präziser Indikator für die Lebenserwartung im hohen Alter.

Die Studie basiert auf der langfristigen Beobachtung von 516 Personen im Alter von 70 bis 103 Jahren. Sie nahmen über viele Jahre hinweg regelmäßig an kognitiven Tests teil. Am Ende des Untersuchungszeitraums – 18 Jahre nach dem Studienstart – waren alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer verstorben. Ihr Sterbedatum war bekannt, die Todesursachen allerdings nicht.

Sprachliche Wendigkeit als Lebenszeichen

Im Fokus der Untersuchung standen insgesamt neun kognitive Tests – darunter Aufgaben zur Merkfähigkeit, zum verbalen Wissen und zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Zwei der Tests maßen die verbale Flüssigkeit, also die Fähigkeit, unter Zeitdruck möglichst viele Wörter zu produzieren. In einem der beiden Tests sollten die Teilnehmenden innerhalb von 90 Sekunden so viele Tiernamen wie möglich nennen. In einem anderen sollten sie ebenso viele Wörter mit dem Anfangsbuchstaben „S“ aufzählen.

Das überraschende Ergebnis: Diese beiden Wortflüssigkeitstests sagten die verbleibende Lebenszeit deutlich besser voraus als alle anderen kognitiven Tests. Wer in diesem Bereich besonders gut abschnitt, hatte eine signifikant höhere Lebenserwartung. Menschen im oberen Viertel der Leistung lebten im Durchschnitt fast neun Jahre länger als jene im unteren Viertel. Jedes zusätzliche genannte Tier reduzierte das Sterberisiko um fünf Prozent – bei jedem zusätzlichen „S“-Wort waren es immerhin noch drei Prozent.

Warum ist Wortflüssigkeit so aussagekräftig?

Die Antwort liegt in der Komplexität der Aufgabe: Um viele verschiedene Tiernamen oder Wörter mit „S“ zu finden, müssen verschiedene kognitive Prozesse gleichzeitig ablaufen. Es braucht Zugriff auf das Langzeitgedächtnis, eine schnelle Verarbeitungsgeschwindigkeit, kognitive Kontrolle, um sich nicht zu wiederholen – und eine intakte Selbstüberwachung. „Wortflüssigkeit ist eine komplex zusammengesetzte Fähigkeit“, sagt Ulman Lindenberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Mitautor der Studie. „Sie erfordert ein fein abgestimmtes Zusammenspiel verschiedener Hirnfunktionen.“

Dieses Zusammenspiel scheint ein Spiegelbild der allgemeinen Hirngesundheit zu sein. Wenn die Fähigkeiten in diesem Bereich stark nachlassen – wie etwa bei einer beginnenden Demenz –, kann dies ein Hinweis auf beschleunigte Alterungsprozesse im Gehirn sein. Lindenberger: „Im Extremfall bleibt nur noch die wiederholte Nennung von zwei Worten wie ‚Hund, Katze‘ übrig.“

Neue Maßstäbe in der Langlebigkeitsforschung

Eine Besonderheit der Studie liegt auch in ihrer Methodik. Anders als viele vergleichbare Untersuchungen nutzten die Forschenden ein innovatives statistisches Verfahren – ein sogenanntes „joint multivariate longitudinal and survival model“ (JMLSM). Es erlaubt, kognitive Entwicklungen und Überlebenswahrscheinlichkeit gleichzeitig in einem Modell zu berechnen – was die Genauigkeit der Vorhersagen deutlich erhöht.

Vorsicht bei individuellen Prognosen

So beeindruckend die Ergebnisse auch sind: Die Forscher betonen, dass sich die Aussagen nicht direkt auf einzelne Personen übertragen lassen. Die Zusammenhänge basieren auf Wahrscheinlichkeiten – sie erlauben keine exakten Vorhersagen über das individuelle Lebensende. „Unsere Daten zeigen lediglich statistische Zusammenhänge“, sagt Paolo Ghisletta. „Sie sind ein Hinweis, aber keine Gewissheit.“

Einfaches Testverfahren mit Potenzial

Trotzdem könnten die Erkenntnisse praktische Folgen haben. Denn Wortflüssigkeitstests sind einfach durchzuführen, benötigen kaum Hilfsmittel und liefern dennoch wertvolle Informationen über den allgemeinen Gesundheitszustand im Alter. Sie könnten künftig helfen, Risiken früh zu erkennen oder individuellen Betreuungsbedarf besser einzuschätzen.

Die Forschenden sehen in ihren Ergebnissen den Ausgangspunkt für weitere Studien. Denn noch ist nicht endgültig geklärt, warum die Fähigkeit zur Wortflüssigkeit so eng mit der Lebenserwartung zusammenhängt. Klar ist nur: Wer im hohen Alter geistig flink ist, hat offenbar nicht nur den besseren Wortschatz – sondern auch die besseren Aussichten auf ein langes Leben. 

Zur Berliner Altersstudie

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