Virologe Florian Krammer: "Die Impfpflicht war ein Fehler"

Der österreichische Virologe und Impfstoffexperte Florian Krammer leitet das neue Ignaz-Semmelweis-Institut und pendelt dafür zwischen New York und Wien
Während der Pandemie twitterte sich der Virologe Florian Krammer zum „Superstar“, der weit mehr als 300.000 Follower auf X (vormals Twitter) im Live-Takt zu Sars-Cov-2 informierte. Nun leitet er das neue Ignaz-Semmelweis-Institut für Infektionsforschung der MedUni Wien, das Anfang des Jahres seine Arbeit aufgenommen hat. Mit dem KURIER sprach der Wissenschaftler über seine Lehren aus der Covidkrise, neue Gefahren und vermehrte Impfskepsis.
KURIER: Es heißt, die Wahrscheinlichkeit für einen Ausbruch neuer Infektionskrankheiten, Pandemien und Epidemien ist höher denn je. Warum?
Florian Krammer: Dafür gibt es einige Gründe. Einer davon ist trivial: Man ist viel besser darin geworden, solche Krankheitsausbrüche zu erkennen und zu diagnostizieren. Auch der Informationsfluss ist ein völlig anderer, man hört sofort davon.
Und die anderen Gründe?
Es geht hier um Erreger, die von Tieren auf Menschen überspringen. Es leben immer Menschen auf der Welt, gleichzeitig gibt es immer mehr Tiere, die zur Nahrungsmittelproduktion gehalten werden. Damit wird die Schnittfläche zwischen Tier und Mensch immer größer, das erhöht das Risiko. Weiters ist es so, dass ganze Habitate zerstört werden, etwa der Dschungel. Es kommt zu Kontakten mit neuen Tieren, was ebenfalls zum Sprung von gefährlichen Erregern führen kann. Das letzte Problem ist die Konnektivität. Innerhalb weniger Stunden gelangen wir von Punkt A zu Punkt B, wodurch sich Erreger schnell ausbreiten können. Vor 100 Jahren war das noch nicht so einfach, da musste man mit dem Schiff über den Atlantik.
Welche Rolle spielt die Klimaerwärmung in diesem Kontext?
Eine bedeutende. Vor allem bei uns, weil es vermehrt neue Arten von Moskitos geben wird sowie neue Zeckenarten mit neuen Krankheitserregern. Wir brauchen einen integrierten Blick auf die menschliche Gesundheit in Verbindung zum Tier- und Pflanzenreich sowie die Veränderungen des Planeten. Das alles hängt zusammen.
Welche Aufgabe hat das neue Semmelweis-Institut, welche Art von Forschung wird das sein?
Wir wollen im breiten Sinne Infektionsmedizin, Infektionsbiologie und solide Grundlagenforschung machen. Aber es geht auch darum, sich auf die nächste Pandemie vorzubereiten. Da geht es vor allem um Impfstoffe, um Therapien und neue diagnostische Werkzeuge, die man entwickeln kann. Es ist auch Ziel, eine Gemeinschaft zu bilden, mit dem Semmelweis Institut in Österreich als Katalysator auf dem Gebiet der Infektiologie und Epidemiologie. Es gibt in Österreich viele exzellente Forscher, aber es braucht mehr Vernetzung. Und es geht auch um eine bessere Wissenschaftskommunikation.
Wie sollte gute Aufklärungsarbeit und Wissenschaftskommunikation künftig ausschauen?
Eine wesentliche Strategie wäre es, bereits mit jungen Menschen zu arbeiten. Bereits in der Schule sollte das Wissen vermittelt werden, um Viren, Infektionskrankheiten und Impfstoffe besser zu verstehen. Wer sich gut auskennt, ist weniger skeptisch. Eine andere Strategie ist es, Menschen in den Wissenschaftsbetrieb einzubinden, im Sinne von ‚Citizen Science‘. Das werden wir mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut machen. In New York haben wir ein tolles Projekt mit Schülern, etwa zur Vogelgrippe. Wir gehen gemeinsam in den Central Park und sammeln Vogelkot, um in der Folge zu schauen, welche Viren der enthält. Die Schüler sind sehr begeistert davon.

Der Virologe Florian Krammer im Gespräch mit Gabriele Kuhn
Was sind denn aus Ihrer Sicht die wichtigsten Lehren aus der Pandemie? Was waren die größten Fehler, was wurde gut, was schlecht gemacht?
Wir haben viel gelernt, vor allem auf der technischen Seite. Da sind wir recht gut vorbereitet. Die wichtigste Erkenntnis ist allerdings, dass die Bevölkerung mitgenommen werden muss. Als Virologe, der eine Pandemie aufhalten möchte, kann ich sagen, dass Masken, Social Distancing und Lockdowns helfen, doch das ist nur eine Sicht der Dinge. Wir haben gelernt, dass so ein Geschehen auch aus vielen anderen Blickwinkeln betrachtet werden muss: Wie schaut das auf der sozialen Seite aus, wie ist es wirtschaftlich? Welche Auswirkungen hat das auf Schulen und Ausbildung? Gleichzeitig ist klar, dass eine Pandemie immer ein Einschnitt und ein Problem sein wird. Da wird immer Schaden entstehen, aber man muss versuchen, mit so wenig Schaden wie möglich durch eine Pandemie zu gehen. Da braucht es Inputs von vielen unterschiedlichen Seiten.
Gerade für Kinder und Jugendliche waren die Lockdowns während der Pandemie eine große psychische Belastung, mit andauernden Folgen. Viele haben immer noch Probleme mit der mentalen Gesundheit. Wie geht es Ihnen damit?
Wie gesagt: Wer eine Pandemie gut managen will, muss schauen, dass der Gesamtschaden minimiert wird und alle Seiten ausleuchten. Da gab es ein Problem, das muss das nächste Mal anders gelöst, daran muss gearbeitet werden. Wobei ich sage, dass die junge Generation es grundsätzlich nicht so leicht hat. Die Pandemie hat vieles verstärkt, ist aber wahrscheinlich ist nicht der einzige Grund für Probleme mit der psychischen Gesundheit.
Wie stehen Sie heute zum Thema Impfpflicht?
Das ist etwas, das man vermutlich nicht wiederholen sollte. Ich war auch dafür, aber das war ein Fehler. Wenn Menschen zu etwas gezwungen werden, entsteht eine Gegenbewegung. Das war nicht gut. Gleichzeitig ist vieles richtig gemacht worden, gerade, was die erste Welle betrifft, frueh in der Pandemie, die in manchen Ländern viele Todesopfer gefordert hat. In Österreich hingegen ist kaum etwas passiert, verglichen mit anderen Ländern waren wir sehr gut. Da gab es noch keine Gegenmaßnahmen, keine Impfungen, niemand wusste genau, wie man mit dieser Infektion umgeht. Die Welt war darauf nicht vorbereitet. In dieser Phase war es wichtig, schnell zu reagieren. Das wurde gemacht.
Welche Erreger bereiten Ihnen aktuell am meisten Sorge?
Da gibt es einige. H5N1 ist einer davon, die Vogelgrippe. Das Virus ist schon lange unterwegs, humane Fälle haben wir seit 1997, seit 2020 hat sich H5N1 in Tieren weltweit explosionsartig verbreitet. Ich denke nicht, dass uns eine Pandemie direkt bevorsteht, aber man muss aufpassen. Das Virus ist in den USA letztes Jahr plötzlich von Vögeln auf Kühe übergesprungen und zirkuliert dort nach wie vor. Da besteht die Gefahr, dass sich das Virus an Säugetiere anpasst und leichter auf Menschen überspringt beziehungsweise sich so verändert, dass es von Mensch zu Mensch weitergegeben werden kann. Auch andere Influenza-Viren, die in Tieren zirkulieren, können jederzeit ein Problem verursachen. Wir hatten sechs Pandemien in den vergangenen 100 Jahren, vier davon aufgrund von Influenza.
Wie gut sind wir auf eine neue Influenzapandemie vorbereitet?
Ganz gut. Weil man sich bereits damit auskennt, weil es antivirale Medikamente gibt und weil die Impfstoffe etabliert sind, es muss nur der Stamm ausgetauscht werden. Herkömmliche Impfstoffe würden recht schnell zur Verfügung stehen. Gut wäre es trotzdem nicht, aber man wäre besser vorbereitet, als man es bei SARS-CoV-2 war.
Und sonst?
Was mir immer wieder Sorgen macht, ist das Nipah-Virus, es kommt in Flughunden vor, vor allem in Bangladesch, Indien. Das Problem dabei ist, dass es auch das Gehirn und Nervensystem betrifft. Zwischen 50 und 90 Prozent der Menschen, die sich damit infizieren, sterben. Wenn das bei der Mensch-zu-Mensch-Übertragung effizienter wird, wäre das ein Riesenproblem.

Angst vor Wissenschaftsfeindlichkeit? Krammer: "Die Suppe wird nicht so heiß gekocht wie gegessen."
Sie forschen und leben zum Großteil in den USA. Vor Kurzem hat die neue Trump-Regierung einen vorübergehenden Kommunikationsstopp für US-Gesundheitsbehörden verordnet. Macht Ihnen das Sorgen?
Das ist nicht besonders gut. Aber es ist nicht das erste Mal, wir hatten eine ähnliche Situation Anfang 2020 in einer Pandemie. Damals hat das die Wissenschaftscommunity gut abgefangen. Mal sehen, wie lange das jetzt dauert und was sich verändert.
Fürchten Sie noch mehr Wissenschaftsfeindlichkeit?
Das ist etwas, das sich seit Jahren abzeichnet. Schon während der ersten Trump-Regierung gab es viele Angriffe auf die Wissenschaft, speziell in Bezug auf die Virologie und Infektiologie. Andererseits war da die „Operation Warp Speed“ der Trump-Administration, um die Entwicklung, Herstellung und Verteilung von Covid-19-Impfstoffen zu beschleunigen. Fakt ist: Es werden sich Dinge verändern und das wahrscheinlich nicht zum Besseren, doch in Panik ausbrechen muss man jetzt auch nicht. Die Suppe wird heißer gekocht, als gegessen.
Die Impfbereitschaft sinkt, in den USA, in Österreich. Worin sehen Sie die Gründe für diese Skepsis?
Als die Impfstoffe eingeführt wurden, geschah dies zu einer Zeit, als viele Menschen an Polio, Masern oder Mumps erkrankt waren. Das Leid war sichtbar, das ist heute nicht mehr der Fall, weil die Impfungen erfolgreich waren. Es fehlt an Bewusstsein, wie problematisch diese Krankheiten sein können und wie sehr Impfungen wirken. Das wird sich vermutlich ändern, wenn es wieder mehr schwere Erkrankungen gibt.
Zur Person
Florian Krammer, 42, ist ein österreichischer Virologe und Professor für Vakzinologie an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai. Seit 2024 ist er außerdem Professor für Infektionsmedizin am Ignaz-Semmelweis-Institut, das er leitet
Das Institut
Das neue Ignaz-Semmelweis-Institut in Wien widmet sich der Erforschung von Infektionskrankheiten, um Gegenmaßnahmen wie Therapeutika und Impfstoffe zu entwickeln. Es ist ein Zusammenschluss mehrerer österreichischer Universitäten
Die Pandemie hat die Impfskepsis angefeuert. Es hieß, die Impfung schützt vor Ansteckung und Weitergabe – und das lange. Eine Irreführung?
Das kann man so nicht sagen. Die Impfung verhindert viele symptomatische Erkrankungen und hat auch Infektionen und die Weitergabe des Virus verhindert, aber nicht zu jenem hohen Prozentsatz, der erwartet wurde. Der Grund, warum es jetzt sehr, sehr wenige schwere Infektionen mit SARS-CoV-2 gibt, ist die Immunität, die wir uns über Impfungen aber auch Infektionen aufgebaut haben. Man muss sich mal anschauen, wie viele Leute vor drei Jahren an der Infektion gestorben sind und wie viele jetzt daran sterben. Die Impfung hat sehr, sehr viele Leute geschützt. Und hätte sich das Virus nicht so stark verändert, würden uns die ersten zwei, drei Impfungen wahrscheinlich nach wie vor schützen. Die erste große Anzahl an Durchbruchsinfektionen gab es erst mit der Omikron-Variante.
Mit dieser Mutationsfreudigkeit hat niemand gerechnet.
Ja, wir dachten, Coronaviren mutieren – verglichen mit anderen RNA-Viren - aufgrund ihrer Biologie weniger stark. Was dann passiert ist, verstehen wir noch nicht ganz. Die aktuelle Hypothese ist, dass Menschen mit geschwächtem Immunsystem über Monate mit dem Virus infiziert waren, sich dabei ein leichter Immundruck aufgebaut hat woraufhin sich das Virus über die Zeit stark verändert hat. Das hat dann zur Bildung etwa der Omikron Variante geführt. Was überraschend war, aber das ist vielleicht eine weitere Lehre aus der Pandemie: Dass es bei Viren immer Überraschungen gibt und Unerwartetes kommen kann.
Sie pendeln zwischen New York und Wien – wie schaffen Sie dieses Multitasking?
Das geht schon. Einer der Vorteile sind die zwei Zeitzonen. Wenn ich in New York bin, mache ich in der Früh viel für Österreich, danach den Rest. Wenn ich hier bin, mache ich untertags alles für Österreich, der Arbeitstag in New York geht dann bis Mitternacht. Außerdem werde ich von einem großartigen Team unterstützt.
Angenommen, Sie säßen mit einem Impfskeptiker hier in Österreich bei einem Wiener Schnitzel – was würden Sie ihm sagen?
Ich würde vor allem gut zuhören, um die Gründe für die Skepsis zu erfahren – und seine/ihre Meinung. Erst dann würde ich darüber reden, um zum Beispiel die Technologien dahinter zu erklären.
Kommentare