Das hat aber nichts damit zu tun, dass das Wort Trauma heute viel häufiger verwendet wird?
Nein, das ist nicht der Grund. Das Wort Trauma wird derzeit leider inflationär verwendet. Was wirklich bleibende Schäden hinterlässt, ist Gewalt – sei es verbal, körperlich oder sexuell. Und wenn man im Umgang mit Trauma geschult ist, sieht man die Auswirkungen überall.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Ich kenne ein Mädchen, das einen Vorschulchor besucht hat. Sie wurde gegenüber dem Chorleiter aggressiv, verweigerte mitzusingen. Als ich gebeten wurde, ein Gespräch zu suchen, stellte sich heraus, dass der Mann als Junge sexuellen Missbrauch erlebt hatte. Wenn eines von den Kindern ihn an etwas aus seiner eigenen Vergangenheit erinnerte, war er schnell reizbar. Die Kinder spürten seine Anspannung und reagierten darauf.
Sie sprechen von Triggern. In Ihrem neuen Buch beginnen Sie sogar mit einer Triggerwarnung. Aber warum müssen wir über Trauma sprechen, obwohl es so schmerzhaft sein kann?
Weil es nicht anders geht. Wenn man traumatisiert wird, ist man so aufgeregt, dass der Teil des Gedächtnisses, das die Strukturierung macht, in die Knie geht. Stattdessen bleiben hot memories übrig – starke Sinneseindrücke wie Geräusche oder Gerüche, die immer wieder auftauchen, ohne dass sie im Kontext verankert sind: ein Knall, der Geruch von Alkohol, das Gefühl von Angst. Der Körper bleibt im Alarmzustand. Um dem zu entkommen, vermeiden viele Betroffene alles, was diese Erinnerungen auslösen könnte.
Sie haben die Narrative Expositionstherapie (NET) entwickelt, um Menschen zu helfen, Traumata zu verarbeiten. Dabei wird die Lebensgeschichte – und dabei auch traumatische Momente – im Detail angeschaut. Warum ist diese Methode so effektiv?
Das Problem bei Trauma ist nicht die Erinnerung, sondern die Erinnerungslücke, die Gedächtnisstörung. Durch die NET helfen wir den Betroffenen, die besonders aufregenden Momente in ihre Lebensgeschichte einzuordnen. Wenn man das Trauma zuordnen kann, hört das verzweifelte Gefühl auf. Dazu kommt, dass das Gesehenwerden durch den Therapeuten, das Gefühl, gehört zu werden, sehr heilend ist. Und dann geht es um mehr als individuelle Heilung – gerade bei Menschenrechtsverletzungen oder politischem Unrecht ist es wichtig, die eigene Geschichte zu erzählen. Der Mensch wird vom Opfer zum Expertenüberlebenden.
1999 haben Sie während des Balkankriegs als Mental Health Officer in Flüchtlingslagern gearbeitet. Einige Kollegen, wie ein Arzt aus Kanada, belächelten Ihre Arbeit. Warum ist Traumabehandlung in Krisensituationen so wichtig?
Es heißt oft, Psychotraumatologie sei ein Luxus. Und klar, Wohnen, Essen, Sicherheit, das kommt zuerst. Aber wenn wir uns die menschliche Bedürfnispyramide anschauen, dann kommt danach meist Bildung und Arbeit. Und irgendwann, ganz zum Schluss, Mental Health. Aber ich sage: Man müsste das Ganze eigentlich auf den Kopf stellen. Wenn die Basis nicht stimmt, also wenn ich keine psychische Gesundheit habe, wird alles andere unmöglich.
Was passiert, wenn in einer Gesellschaft zu viele traumatisierte Menschen leben?
Wir reden heute viel über 'toxische Persönlichkeiten'. In der Regel sind das traumatisierte Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt – nicht immer körperlich, oft emotional – durch die Beziehungsperson erfahren haben. Diese Menschen tragen ihre unverarbeiteten Verletzungen in die Gesellschaft hinein. Andere, die körperliche Gewalt erlebt haben, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder gewalttätig.
Viele Menschen vermeiden es, sich mit Trauma auseinanderzusetzen. Wie halten Sie es aus, sich so intensiv damit zu konfrontieren?
Natürlich ist es unerträglich zu hören, dass jemand mitansehen musste, wie seine Frau getötet wurde. Aber was ich aushalten kann, ist der Schmerz, den der Mensch empfunden hat und mir mitteilt. Es geht oft um wenige Minuten – Minuten, in denen ich helfen kann, Worte zu finden, um das Unfassbare auszudrücken. Danach ist der Schmerz zwar nicht verschwunden, aber die Angst, verrückt zu werden, wenn man hinschaut, ist nicht mehr da. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir hinschauen lernen, zuhören – und aufschreiben, um es den Menschen wieder vorzulesen. Dann sind wir aus dem Trauma herausgetreten.
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