10 Jahre Forschung: So wirkt Stille auf Psyche und Gesundheit
Eine absolute Stille gibt es nicht, sagt der Stille-Forscher Eric Pfeifer: "Es geht darum, für sich selbst still zu werden, auch wenn es um einen rundherum nicht komplett akustisch still ist."
Seit zehn Jahren erforscht der Vorarlberger Musik- und Psychotherapeut Eric Pfeifer, Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg, mit seinem Team die Wirkung und Wahrnehmung von Stille. Die "Freiburger-Stille-Studien" zählen zu den bekanntesten wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiet.
Die Ergebnisse aus 10 Jahren Stille-Forschung
Zehn Jahre nach der ersten Studie fasst er im KURIER-Interview die zentralen Ergebnisse zusammen.
KURIER: Wie wird man ausgerechnet „Stille-Forscher“?
Eric Pfeifer: Ich bin im Montafon aufgewachsen und habe dort viel Zeit in den Bergen verbracht. Die Stille oberhalb der Baumgrenze war für mich immer wieder eine entscheidende Erfahrung, die mich ein Leben lang begleitet und beschäftigt hat. In Freiburg habe ich dann den renommierten Zeit- und Wahrnehmungsforscher Marc Wittmann kennengelernt. Beim Thema „Stille“ haben wir rasch zusammengefunden und 2015 die erste Stille-Studie gemacht.
Wie kann man sich eine Stille-Studie vorstellen?
Die Probandinnen und Probanden befinden sich allein beziehungsweise in einer Gruppe im Freien – etwa im Wald oder im Stadtgarten – beziehungsweise in einem Zimmer. Bei den Studien in Innenräumen sitzen sie mit dem Rücken zum Fenster auf einem Sessel. Ansonsten ist nur noch ein Tisch im Zimmer. Es gibt keine Blumen oder sonstigen Ablenkungen. Sie haben kein Mobiltelefon und keinen Laptop bei sich.
Die einzige Aufgabe ist, wach zu bleiben, nicht aufzustehen und sich mit den eigenen Gedanken zu beschäftigen. Die Studienteilnehmer wissen auch nicht, wie lange die Stille dauert. Sie wissen lediglich, dass sie am Ende von einer Studienmitarbeiterin oder einem -mitarbeiter abgeholt werden.
Musiktherapeut Pfeifer: "Eine Musik ohne Stille gibt es nicht."
Welche sind die zentralen Erkenntnisse der vergangenen zehn Jahre?
Über alle Studien hinweg haben sich die Teilnehmenden nach der Stille deutlich entspannter gefühlt als davor. Ihre Stimmung war besser und sie waren weniger emotional erregt als davor. Sie haben auch kaum oder gar keine Langeweile während der Stille empfunden – in den meisten Studien empfanden sie die Stille-Phase kürzer als sie es tatsächlich war.
Das negative Gedankenkreisen, die sogenannte Rumination, um Dinge, die in der Vergangenheit liegen oder mögliche Ereignisse in der Zukunft, hat signifikant abgenommen. Dieses Gedankenkreisen geht stark mit Angst- und Zwangsstörungen sowie mit Depressionen einher, erhöht das Risiko für diese Krankheitsbilder. Dafür waren die Probanden stärker auf den aktuellen Moment fokussiert, auf das Wahrnehmen der Gegenwart.
Beim Erleben von Stille in der Natur waren die positiven Effekte sogar noch stärker als in Innenräumen. Das galt auch dann, wenn eine professionelle Person den ganzen Prozess begleitet hat – also ihn mit einem musiktherapeutischen Entspannungsverfahren einbegleitet hat und während der Stille-Phase anwesend war.
Über alle Studien hinweg haben sich die Teilnehmenden nach der Stille deutlich entspannter gefühlt als davor.
Wie lange haben diese Phasen der Stille gedauert?
Mit einer Ausnahme immer sechseinhalb Minuten. Nur in einer Studie war es eine Stunde – da schwebten die Teilnehmenden in einem mit Salzwasser gefüllten Behälter 60 Minuten auf dem Wasser. Aber grundsätzlich waren die sechseinhalb Minuten ausreichend.
Auf diese Zeitspanne kamen wir durch Erfahrungen aus der Musiktherapie: Dort haben Studien ergeben, dass die Anwendung eines akustischen Reizes mit einer Dauer von drei bis acht Minuten die besten positiven Effekte erzielt. Daran haben wir uns orientiert – und gute Erfahrungen damit gemacht.
Aber was ist Stille überhaupt? Sie haben einen Park erwähnt – da können Kinder spielen, Redende an einer Parkbank vorbeigehen, usw. Auch über der Baumgrenze ist es nicht immer still: Der Wind kann rauschen, ein Bach plätschern ...
Es gibt keine absolute Stille, nicht einmal in einem schalltoten Raum. Denn dort hören Sie irgendwann das Rauschen Ihres Blutes, das Knacksen Ihrer Knochen. Es geht immer um die innere Stille: Ich werde für mich still, es muss nicht rundherum komplett akustisch still sein.
Man kann sich individuelle Räume der Stille schaffen: Für den einen ist es das Sitzen an einem Seeufer, für den anderen die Ruhe in einer Kirche, für den dritten das Fahren mit Noise-Cancelling-Kopfhörern in der U-Bahn.
Gesundheitspotenzial versus Gesundheitsschäden
Stille kann ein wertvoller Baustein für die Erhaltung und Förderung der Gesundheit sein, betont Psychotherapeut Eric Pfeifer.
Dagegen ist Lärm nach der Luftverschmutzung das zweitgrößte umweltbedingte Gesundheitsrisiko in Europa, heißt es bei der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Jährlich gehen in Westeuropa 1,6 Millionen gesunde Lebensjahre durch Verkehrslärm verloren.
Aber gibt es nicht auch die unerträgliche Stille, oder die Stille der Einsamkeit?
Natürlich. Die Stille in unseren Studien war eine freiwillig gewählte, die Probandinnen und Probanden hatten eine gewisse Grundmotivation, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen – sonst hätten sie nicht teilgenommen. Stille kann zu Folterzwecken angewandt werden, im Englischen gibt es den Ausdruck „to silence somebody“ – jemanden zum Schweigen zu bringen.
Und ganz schlimm ist es, wenn Eltern ihre Kinder mit Schweigen, also durch Stille, bestrafen. Ja, Stille kann auch belastend sein. Trotzdem gibt es aber eben auch die positiven Formen der Stille, die uns guttun und auch heilsam sein können. Aber für diese muss man sich selbst entscheiden und sie suchen.
Der britische Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott hat in einer seiner Arbeiten beschrieben, dass bereits der Säugling diese Erfahrung des Alleinseins in Stille benötigt, um sich gesund entwickeln zu können. Natürlich nur in der Sicherheit, dass eine Bezugsperson da ist, sobald das Kind unruhig wird oder weint, also ein Bedürfnis nach Nähe oder etwa Hunger hat.
Sie sind auch Musiktherapeut. Wie hängen Musiktherapie und Stille zusammen?
Eine Musik ohne Stille gibt es nicht. Deshalb kann es auch keine Musiktherapie ohne Stille geben. Die Stille wird oft sogar als bedeutender erlebt als die zuvor erklungene Musik. Die Pausen in Stille sind wichtige Momente der Reflexion.
Wir haben an unserer Hochschule kurze „Stille-Praktiken“ eingeführt: Da halten wir in Kleingruppen sechs Minuten Stille vor dem Vorlesungsbeginn der Früh, oder in der Mittagspause, oder machen kurze Stille-Spaziergänge. Das kommt sehr gut an.
Stille ist immer auch ein bisschen eine Magie, ein Geheimnis.
Der Theologe und Mediziner Johannes Huber gibt in seinem neuen Buch „Weltwissen Heilung“ die Empfehlung, täglich zehn Minuten lang still zu werden und zu schweigen.
Ich finde es sehr gut, dass auch Mediziner das aufgreifen und auf die positiven Gesundheitseffekte verweisen. Mit den zehn Minuten liegt die Empfehlung nahe an den sechseinhalb Minuten aus unseren Studien. Aber jeder muss die für sich die richtige Form und Zeitdauer finden: Und da kann die Dosierung so wie bei Medikamenten sehr unterschiedlich sein.
Aber setzen Sie sich einmal in einer für Sie angenehmen, ruhigen Umgebung hin und lassen Sie die Stille auf sich wirken, solange es eben dauert. Erproben Sie eine solche Vorgangsweise auch angesichts von Studien der WHO, die aufzeigen, wie viele Millionen an gesunden Lebensjahren wir aufgrund von Lärmbelastung verlieren.
Wo liegt eigentlich der Unterschied zur Meditation?
Meditation ist immer gekoppelt an ein Vorgehen, eine Regel, eine Anleitung. Die Stille hingegen braucht kein spezielles Vorgehen. Sie ist ein akustisches Phänomen, auf das wir uns einlassen können, aber dafür sind keine Regeln vonnöten. Das ist der große Unterschied.
Wie baut der Stilleforscher Stille in seinen Alltag ein?
Hohe Berge gibt es in Freiburg zwar nicht, aber wir haben hier den Schwarzwald vor der Tür und ich versuche, so gut es sich ausgeht, jeden Abend eine Stunde im Wald spazieren zu gehen, allein für mich. Das hilft mir, die Dinge des Tages zu ordnen, idealerweise ein Stück weit abzuschließen und neue Energie für den nächsten Tag zu sammeln.
"Stille lädt uns immer wieder dazu ein, uns neu mit ihr auseinanderzusetzen", sagt Eric Pfeifer.
Sie haben einmal gesagt, Stille fordert einen immer wieder heraus. Was meinen Sie damit?
Ich glaube, dass es nie eine einfache, allgemeingültige Antwort auf die Fragen geben wird, was Stille kann, was Stille ist und wie Stille wirkt. Hier gibt es so etwas wie die besondere Magie der Stille. Stille ist immer auch ein bisschen eine Magie, ein Geheimnis. Sie lädt uns immer wieder dazu ein, uns neu mit ihr auseinanderzusetzen. Denn Stille verfügt über ein großes Potenzial für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden.
Viele Jahre lang war die Achtsamkeit ein zentrales Thema im Gesundheitsbereich. Aus meiner Sicht könnte die Stille zum nächsten großen Trend werden. Denn sie kann sehr viel bewirken – und ein wertvoller Baustein für die Erhaltung und Förderung unserer Gesundheit werden.
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