Umfragen zeigten schon zu Jahresbeginn, dass die Österreicher im Vergleich zu Bewohnern anderer Länder pessimistischer eingestellt sind. Hinzu kommt, dass die Meldungen von Taten wie dem Amoklauf in Villachnicht abzureißen scheinen.
Michael Musalek ist u. a. Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud Universität Wien und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Wirkung von Krisen auf die Psyche.
KURIER:Amokläufe, Terror, Krieg, Pandemie: Was macht es mit uns, in Zeiten zu leben, in denen eine Krise die nächste jagt?
Michael Musalek: Akute Krisen vertragen wir gut, sofern es einzelne Ereignisse sind wie persönliche Schicksalsschläge. Dauerhafte Belastungen oder die Überlagerung mehrerer Krisen halten wir aber sehr schlecht aus.
War das früher anders?
So massive Krisen gab es früher nicht, die dermaßen dauerhaft sind. Das hat erst mit der Pandemie begonnen. In unseren Untersuchungen zeigt sich, dass dadurch die psychische Belastung nach etwa einem Jahr massiv angestiegen ist. So entstehen Überlastungen, und dadurch werden wir böse. Es kommt zu Gereiztheit, selbst bei Reizen, die bisher an uns vorbeigingen. Das passiert an einem Punkt, an dem die Menschen oft noch gar nicht wissen, dass sie überlastet sind.
Folgt ein Dominoeffekt, also springt die Aggression über?
Ja, diese Form der Gereiztheit ist hochansteckend. Es gleicht einem Virus, das sich ausbreitet.
Was bedeutet das aktuell?
Die Gesellschaft wird böser. Das ist ja auch sichtbar.
Stumpfen Menschen in dieser Entwicklung ab?
Am Ende ja. Aber erst wenn es in einer Depression mündet. Die wiederum wird ausgelöst durch das Gefühl der Ausweglosigkeit. Das war auch der Fall bei dem Amoklauf in Villach. Aber für alle, die mit dieser schrecklichen Tat konfrontiert werden, indem sie darüber lesen, ist wichtig zu erkennen: Krisen sind immer etwas Individuelles. Wir tun oft so, dass es eine Krise für uns alle wäre. Aber da gibt es unterschiedliche Gewichtungen. Menschen, die etwa durch den Ukrainekrieg in eine echte Krise kommen und jene, die den Krieg furchtbar finden, davon aber nicht persönlich betroffen sind. Krisen potenzieren sich aber, das macht es dann dramatisch. Und dadurch verlieren wir den Bezug zueinander, auch dazu, dass es andere Meinungen als die eigene gibt. Wenn jemand nicht der eigenen Meinung ist, ist er heute oft gleich der Gegner.
Der Tatverdächtige in Villach hat sich auf Tiktok radikalisiert. Sind soziale Medien ein Brandbeschleuniger?
Durch die Plattformen geht alles viel rascher, damit entwickeln sich auch Wut und Stimmungsbilder schneller. Das große Problem sind aber die anonymen Kommentare. Menschen lassen da ihren ganzen Frust raus, was sie sich im persönlichen Gespräch nicht trauen würden.
Welche Rolle spielt dabei das Elternhaus? Lange Krisenzeiten gab es ja auch schon bei den beiden Weltkriegen.
Das Weitertragen von Krisen funktioniert nur, indem man darüber spricht. Die Kriegsgeneration sprach an sich wenig über den Krieg. Durch die sozialen Medien sind wir aber permanent mit Krisen konfrontiert. Das schürt die Gereiztheit. Und dabei verlieren wir alles andere im Leben aus dem Fokus. Das Schöne ist nicht abgeschafft, man kann es aber oft nicht mehr sehen.
Und dann?
Kommt es zur Verlustspirale: Es gibt diesen Schönheitsverlust. Außerdem Energieverlust durch geringe Regenerationszeiten, weil man sich nur noch auf die Krise konzentriert. Möglichkeitenverlust durch eingeschränkten Fokus. Und letztlich Vertrauensverlust. Diese vier Themen hängen zusammen.
Was kann die Schönheitssäule, die uns aus dem Tief reißen soll, ausmachen?
Die Blumen blühten auch in Pandemiezeiten. Schöne Musik war auch da wunderschön anzuhören. Schönheit ist subjektiv, es kann auch das Lesen eines Buchs oder das Zeitverbringen mit einem anderen Menschen sein. Es geht darum, den Blick darauf zu lenken, was einem Kraft gibt und weg von der Krise führt. Und es geht um soziale Nähe, die Menschen müssen wieder mehr zusammenrücken.
Ist es für Sie aber nachvollziehbar, wenn Menschen angesichts der Schreckensmeldungen sagen: Ich kann nicht mehr, ich resigniere.
Es ist verständlich und prinzipiell eine gesunde Reaktion. Das Problem beginnt aber, wenn man gar nichts mehr wahrnimmt und anfängt, etwas zu beschönigen, um sich selbst zu beruhigen. Scheußliches bleibt scheußlich. Ich muss mich aber nicht den ganzen Tag mit dem Scheußlichen beschäftigen. Die zentrale Frage ist: Kann ich selbst etwas daran ändern? Wenn nicht, gilt es, zu erkennen, wie man sich schützt – etwa durch das Erkennen der Kraftsäulen und das Setzen bewusster Regenerationszeiten. Das völlige Negieren ist eine Gefahr. Wir werden uns auch damit beschäftigen müssen, wie man die permanente Erreichbarkeit anders gestalten könnte. Die sozialen Medien wird es weiter geben, wir müssen aber lernen, anders und bewusster damit umzugehen.
Wie sähe die Welt ohne soziale Medien denn aus?
Sicher anders. Aber das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Und für viele ist es eine Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten. Es sind aber keine echten Sozialkontakte. Die Gesellschaft verroht durch das Schreiben kurzer Nachrichten oder das Ausdrücken der Gefühle durch Symbole wie Daumenhoch oder Herz. Dabei brauchen wir mehr denn je ein Miteinander.
Durch einen Amoklauf wie in Villach sinkt aber das Vertrauen in die Mitmenschen. Wie kann da Nähe aufgebaut werden?
Vertrauensverlust verläuft in Stufen: Zuerst verliert man das Vertrauen in Institutionen, dann in Mitmenschen, später glaubt man dem Nachbar nicht mehr, und am Ende verliert man das Vertrauen in sich selbst. Etwa, indem man meint, mit Problemen nicht mehr fertigzuwerden. Es geht also vom Außen ins Innen. Und dann fühlen wir Angst und Gereiztheit, später Verzweiflung.
Ist das der Punkt, an dem Menschen besonders anfällig sind für Radikalisierung?
Jugendliche neigen insgesamt zur Radikalität, nicht nur Syrer, auch Österreicher. Sie durchleben in der Pubertät ein Ausloten der Grenzen. Was sich aber im Laufe der Zeit verändert hat: Jetzt wird Radikalisierung gefördert und mit höheren Gütern in Verbindung gebracht, etwa beim Märtyrertum. So entsteht eine Brutalisierung. Die beginnt schon bei Computerspielen, die zeigt, dass die Achtung vor Menschenleben sinkt. Dort hat man viele Leben, im echten Leben nicht.
Nur wenige Wochen haben im Fall von Villach für die Radikalisierung gereicht. Wie kann das sein?
Leider funktioniert die Radikalisierung von Jugendlichen heute leicht, wenn sie kein stabiles Umfeld haben. Es ist kein Wunder, dass bestimmte Gruppen besonders anfällig sind, weil es in diesen oft keine Bezugspersonen gibt. Aus der soziologischen Forschung weiß man, dass Fremdenhass aber nicht das Problem der Fremden ist, sondern dessen, der Fremdenhass erlebt. Das sind oft Menschen, die massive Selbstwertprobleme haben und sich zurückgesetzt fühlen. Dann entwickelt sich Wut aus der Hilflosigkeit, das führt zur Aggression und im schlimmsten Fall zu solchen Gewalttaten.
Die größten Sorgen der Österreicher sind laut einer Ipsos-Erhebung aus dem Herbst 2024:
Es gibt kein Patentrezept, aber Indikatoren: Etwa, dass das Gegenüber keinen persönlichen Kontakt mehr herstellen kann. Spricht man mit jemandem und es kommt zu keinerlei Form von positiv emotionaler Schwingung, ist das ein Warnzeichen. Auch, wenn Jugendliche sich plötzlich zurückziehen. Das war bei dem Amokläufer in Villach der Fall. Das Wesentliche ist, im Gespräch zu bleiben. Viele der Jugendlichen sind allein gelassen, kulturell entwurzelt, haben keine Familien. Das ist ein Nährboden für Menschen, die andere manipulieren wollen.
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