Mehr Mitsprache gefordert: „Patientinnen und Patienten sind Experten“

Martina Hagspiel setzt sich für mehr Mitbestimmung von Patientinnen und Patienten ein.
Martina Hagspiel engagiert sich für mehr Mitbestimmung von Patientinnen und Patienten und möchte ihnen eine Stimme an Verhandlungstischen geben. Wie das gelingen kann.

Gesundheitspolitische Entscheidungen finden oft mit vielen Beteiligten statt – doch die Gruppe, die es betrifft, fehlt meist: die Patientinnen und Patienten, sagt Martina Hagspiel. Seit ihrer eigenen Brustkrebserkrankung im Jahr 2010 engagiert sie sich für mehr Mitbestimmung, Hagspiel gibt das Online-Magazin Kurvenkratzer für Menschen mit Krebserfahrungen heraus, betreibt eine Agentur für Patientenkommunikation und ist im Vorstand der Allianz onkologischer Patientenorganisationen. Sie möchte Patienten eine Stimme an Verhandlungstischen geben. Doch was in anderen Ländern längst Standard ist, hinkt in Österreich hinterher. Was sich ändern müsste, erklärt sie im Interview.

KURIER: Was verstehen Sie unter der Mitsprache von Patientinnen und Patienten?

Martina Hagspiel: Wir wollen in Österreich eine starke Interessensvertretung aufbauen. Bislang haben Patientinnen und Patienten keinen Zugang zu jenen Stellen, an denen tatsächlich über ihre Versorgung entschieden wird. Sie werden pauschal als Laien betrachtet – dabei haben viele von uns große Expertise. Leider dürfen wir an vielen Verhandlungstischen, an denen über zentrale Fragen wie Versorgung oder Arzneimittelzulassung entschieden wird, nicht teilnehmen. Eine Crux dabei ist: Viele Patientenorganisationen sind auf Unterstützung durch die pharmazeutische Industrie angewiesen, weil von staatlicher Seite nur sehr geringe Mittel bereitgestellt werden. Dementsprechend gelten viele dieser Organisationen und deren Vertreter nicht als unabhängig. Weil es keine vernünftige Basisfinanzierung gibt, bleibt aber wenig Alternative in Bezug auf die Finanzierung.

Patienten sind eine sehr ungleiche Gruppe. Wie können sie alle vertreten werden?

Die Vertretung erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen. Die Selbsthilfe bildet die Basis der Patientenvertretung: Einzelne Betroffene schließen sich zusammen, um Erfahrungen auszutauschen. Daraus entstehen oft Patientenorganisationen, in denen auch erste gesundheitspolitische Interessenvertretung stattfindet, die Anliegen bündeln und auf übergeordneter Ebene vertreten. Diese Patientenexperten, haben typischerweise eine Ausbildung und können für viele mitsprechen, sie kennen das Gesundheitssystem. International gibt es derartige Ausbildungen etwa Eupati (Europäische Patientenakademie zu Therapeutischen Innovationen, Anm.). In Italien kann man z. B. Patient Advocacy studieren. Österreich ist eines der Schlusslichter in Europa. Wir haben einen Lehrgang vorbereitet, der aber an fehlender Finanzierung gescheitert ist.

Braucht es gesetzliche Änderungen?

Es braucht einen Paradigmenwechsel, einen absoluten Kulturwandel in Österreich. Das fängt an bei einem Podium, auf dem – sobald über Patienten gesprochen wird – mindestens eine Person mit eigener Erfahrung vertreten ist. Viele glauben, sie könnten für Patienten mitsprechen und mitdenken. Aber das ist nicht der Fall. Das ist eine ganz andere Art von Wissen. Es braucht daher fix verankerte Plätze an den Verhandlungstischen entlang der Versorgungskette, damit Patienten eine echte Stimme bekommen.

Sollen Patienten auch mehr in die Forschung einbezogen werden?

Die EU vergibt sehr viele Forschungsgelder, bei denen die Perspektive von Patienten zunehmend wichtiger wird und Patientenorganisationen als gleichberechtigte Partner eingebunden werden. Da der Druck hier von außen schon kommt, sollte national alles vorbereitet sein. Aber uns fehlen oft die Patienten, um diese Ressourcen liefern zu können. Das ist alles miteinander verzahnt – es scheitert an der Finanzierung, an der Ausbildung, daran, dass man unabhängige Patienten braucht. Wir müssen auch weg von der Vorstellung, dass Patientenorganisationen ein Ehrenamt sind. Es geht um eine Professionalisierung und Standardisierung. Durchaus mit dem Ziel, ein eigenes Berufsbild zu etablieren.

Dass die Expertise von Patienten gesehen wird.

Es geht nicht um medizinisches Wissen, sondern um Wissen aus der Praxis. Manchmal sind es typische Alltagssituationen, die Patienten betreffen, im Klinikalltag oder in der Forschung aber unsichtbar bleiben. Ein banales Beispiel wären Männer mit Prostatakrebs, die durch Inkontinenz Binden oder Windeln tragen. In Männer-WCs gibt es meist keine Hygienebehälter zur Entsorgung. Daran denkt niemand, der nicht betroffen ist. Es geht auch um Themen wie Lebensqualität, patientennahes Studiendesign, bessere Behandlungserfahrungen – damit, blöd gesagt, die Tablette nicht zu groß zum Schlucken ist.

Was ist der Unterschied zur Patientenanwaltschaft?

Die Patientenanwaltschaft behandelt vor allem Missstände und Beschwerden einzelner Patienten. Sie ist sehr wichtig in ihrer Funktion, aber Patienteneinbindung bedeutet, dass wirklich Personen mit eigener Erfahrungsexpertise dort sitzen und etwas beitragen können. Bei systemischen Fragestellungen können das Personen sein, die sich sehr gut im Gesundheitssystem auskennen. Wenn es um einzelne Indikationen geht, ist es wichtig, dass Personen mit Expertise dort sind, bei einem Podium zu Diabetes ein Diabetiker. Es fehlt in Österreich aber diese Heerschar an Betroffenen, die wissen, dass sie Experten in ihrem Bereich sind und ihre Expertise zur Verfügung stellen. So weit sind wir noch nicht.

Patientinnen und Patienten sollen mehr gehört werden. Die Forderungen im Detail findet man unter www.kurvenkratzer.com/white-paper.

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