Die Guardian-Journalistin Alaina Demopoulos hat sich das Produkt genauer angesehen. Die Sticker wurden ihr kostenlos zur Verfügung gestellt. Beim Auspacken war sie verblüfft: Die Sticker sahen aus wie handelsübliche Aufkleber aus, "die man im Spielzeuggeschäft findet", schreibt sie. Weder besonders schwer, noch sonderlich robust.
Tatsächlich behauptet NuCalm auch gar nicht, dass die Patches technologisch komplexe Sensoren enthalten, die etwa Herzfrequenz oder Schweißausschüttung messen. Biomarker, die klassisch mit Angst und Stressempfinden in Zusammenhang stehen. "Sie sagen nur, dass die Aufkleber Biofrequenzen auffangen, die irgendwie existieren, und diese fixieren", zitiert Demopoulos den Neurologen Matthew Burke von der Universität von Toronto.
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Auf der Website wird NuCalm als Wundermittel gepriesen. Da ist von angstlösenden Effekten die Rede, wie sie sonst nur Medikamente bewirken. "Ändern Sie Ihren mentalen Zustand ohne Drogen", ist zu lesen. Eine Packung kostet umgerechnet rund 75 Euro und kann online erworben werden.
Anti-Angst-Sticker sollen kondensierte Regeneration möglich machen
Allerdings sind die Sticker nur ein Teil des Angebots, das NuCalm angstgeplagten Menschen macht. Herzstück ist eine App, über die sich beruhigende Musik abspielen lässt. Lauscht man den Klängen mit geschlossenen Augen und trägt zusätzlich den Sticker, sollen sich die versprochenen Wirkungen entfalten. Schon nach rund 15 Minuten. Nickt man dabei ein, verspricht das Unternehmen gar das beste Nickerchen des Lebens – nach 20 Minuten fühlt man sich demnach so fit wie nach zwei Stunden Nachtschlaf. Freilich kann das Pickerl auch ohne Beschallung getragen werden. Im Alltag wird zur Vorsicht gemahnt: "Tragen Sie NuCalm nicht beim Autofahren oder beim Bedienen von Maschinen."
NuCalm kann auch echte Wissenschaft. Ein von der Firma entwickeltes Gerät, das Mikroströme in das Gehirn pulsiert, um Stress abzubauen, wurde von der US-Arzneimittelbehörde für den medizinischen Gebrauch und die Behandlung von Angsterkrankungen und Schlaflosigkeit zugelassen. Nun konzentriere man sich aber auf die Aufkleber, um eine breitere Masse zu erreichen, berichtet NuCalm-CEO, Jim Poole, im Guardian-Interview.
Doch ist das nun alles Humbug, oder steckt wirklich mehr dahinter?
Im Interview mit dem Telegraph erklärte Guy Leschziner, Neurologe am King's College London, dass die Versprechen "den Rahmen der Glaubwürdigkeit sprengen".
Auf seiner Website wirbt NuCalm mit renommierten Referenzen. So habe man den Effekt des Anti-Stress-Sticker-Systems in einer Harvard-Studie nachweisen können. Als der Guardian das Forschungsteam kontaktiert, stellt sich heraus, dass die Studie nie veröffentlicht wurde. Zwar habe es tatsächlich messbare Effekte gegeben, man habe aber nur rund zwölf Probandinnen und Probanden untersucht. Das sei inzwischen über zehn Jahre her.
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Neurologe Burke kann sich dennoch vorstellen, dass solche Sticker Linderung verschaffen. Und zwar über den Placeboeffekt. "Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die Aufkleber den Menschen durch die psychologische Intervention helfen, indem sie ihnen das Gefühl geben, dass sie behandelt werden." Das sei nicht per se risikoreich. Allerdings würden sich Betroffene wegen der oberflächlichen Heilungseffekte tieferliegenden Problemen nicht mehr widmen. Das könne langfristig problematisch sein.
Sticker machen psychosoziale Versorgungslücke evident
Die Sticker treffen jedenfalls einen Nerv. Angststörungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit. Allein in Europa leiden rund 60 Millionen Menschen daran, Frauen deutlich häufiger als Männer. Expertinnen und Experten schätzen, dass in Österreich 16 Prozent an einer behandlungsbedürftigen Angstkrankheit leiden.
Eine Psychotherapie – in schweren Fällen in Kombination mit einer medikamentösen Behandlung – kann zuverlässig Wege aus der Angst weisen. Wegen des Mangels an kassenfinanzierten Therapieplätzen bekommen Betroffene jedoch in Österreich und vielen anderen Ländern nicht die Hilfe, die sie benötigen.
Da kann ein allesheilender, angstlösender Sticker durchaus verlockend sein, befindet Demopoulos im Guardian. Christy Harrison, Autorin des Buches "The Wellness Trap", in dem sie die Selbsthilfebranche in die Mangel nimmt, geht im Gespräch mit Demopoulos einen Schritt weiter: Man nütze das Leid Betroffener schamlos aus. "Diese Art von Unternehmen nutzen die Schwächen der Menschen aus – ob absichtlich oder nicht –, weil es in unserem Gesundheitssystem eine echte Lücke gibt, wenn es um Fragen der psychischen Gesundheit geht."
Das Wellness-Business boomt weltweit
Das Geschäft mit dem Wohlgefühl floriert tatsächlich – und ist extrem lukrativ. Laut dem jüngsten Global Wellness Economy Monitor (fasst sämtliche Segmente der Wellnesswirtschaft zusammen) liegen die weltweiten Markteinnahmen aktuell bei 4,4 Billionen US-Dollar.
NuCalm ist bei Weitem nicht die einzige Marke, sie sich der Anti-Stress-Sticker-Produktion verschrieben hat. Unter dem Namen "ZenPatch" werden beruhigende Sticker für Kinder verkauft. Die Pickerl in Form von Hunden, Katzen und Hasen sollen mit ätherischen Ölen die Emotionsregulierung unterstützen.
Demopoulos selbst konnte, so schreibt sie, beim Tragen der Sticker jedenfalls keine Wirkung ausmachen.
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