Menschlichkeit in der Medizin: Wie Ärzte besser helfen können

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Die Medizin wird präziser, doch Menschlichkeit bleibt unverzichtbar, so Univ.-Prof. Henriette Löffler-Stastka im Interview.

Zusammenfassung

  • Menschliche Medizin basiert auf echtem Interesse am Patienten und entsteht im Dialog, nicht allein durch Technik oder Daten.
  • Ärztinnen und Ärzte müssen ihre eigenen Grenzen anerkennen, Selbstfürsorge betreiben und im Team reflektieren, um empathisch zu bleiben.
  • Ausbildung und klinischer Alltag sollten Räume für Beziehung, kulturelle Sensibilität und patientenzentrierte Kommunikation schaffen.

Die moderne Medizin arbeitet heute mit Präzision, Daten und Hightech – und trifft dennoch täglich auf etwas, das sich keiner Maschine erschließt: die persönliche Wirklichkeit von Menschen, die vielleicht Angst haben, sich schämen, zweifeln oder hoffen. Damit sind Ärztinnen und Ärzte immerzu konfrontiert. Sie treffen auf Patienten, deren Beschwerden sich nicht nur auf Laborwerte reduzieren lassen, auf Familien in Krisen, auf kulturelle Missverständnisse, auf Ungewissheit und Leid. Wie bleibt man dabei zugewandt – ohne selbst zu zerreißen? Und was heißt Menschlichkeit im medizinischen Alltag, wenn Diagnostik, Zeitdruck, Digitalisierung und Rechtsvorschriften stetig zunehmen?

Ein Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Henriette Löffler-Stastka, Fachärztin für Psychiatrie, Psychoanalytikerin und langjährig verantwortliche Gestalterin des personenzentrierten Medizincurriculums an der MedUni Wien. Wir sprachen über Grenzen, Solidarität, Künstliche Intelligenz – und vor allem darüber, warum das Interesse am Menschen ein zentrales Fundament ärztlicher Kunst bleibt.

Was bedeutet für Sie „menschliche Medizin“ im Alltag?

Menschliche Medizin beginnt immer dort, wo man bereit ist, hinzuschauen und Interesse zu zeigen. Nicht nur für Befunde oder Symptome, sondern für den Menschen. Ein Mensch zeigt über Mimik, Haltung, Stimme und Spannung, wie es ihm geht – oft bevor er etwas sagt. Viele kommen überfordert, verunsichert oder schlicht mit dem Gefühl, nicht zu wissen, warum sie eigentlich da sind. Wenn man das offen anspricht, entsteht Beziehung. Das schafft Vertrauen. Und ohne Vertrauen können Untersuchungen und Diagnostik nur begrenzt wirken.

Ärztinnen und Ärzte stoßen jedoch an Grenzen, aus vielerlei Gründen: Zeitmangel, System, Druck, persönlichen. Wie hält man das aus?

Indem man anerkennt, dass Grenzen zum Beruf gehören. Wir sind keine allwissenden Wesen. Die Medizin hat sich enorm entwickelt, und trotzdem bleiben Lücken. Wer das nicht akzeptieren kann, beginnt manchmal innerlich zu verhärten. Dann schützt man sich mit professioneller Distanz – manchmal so sehr, dass die Empathie verloren geht. Und es ist auch wichtig zu spüren: Wann brauche ich eine Pause? Wann tut mir ein Gespräch mit Kolleginnen oder Kollegen gut? Supervision ist kein Luxus, sondern ein wichtiges Instrument, das die eigene Menschlichkeit schützt.

Es gibt den Begriff die „Wunde des Heilers“. Was würden Sie darunter verstehen?

Ärztinnen und Ärzte möchten helfen. Wenn das nicht gelingt, entsteht Schmerz – die „Wunde“. Manche begegnen ihr mit Rückzug oder Zynismus. Andere halten sie aus und bleiben offen. Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der als 17-Jähriger eine tödliche Diagnose erhielt. Er ließ sich fallen, er gab auf. Aber in dieser existenziellen Krise fand er die Musik. Heute ist er ein renommierter Komponist in der Schweiz. Für mich zeigt diese Geschichte, dass Menschen oft Kräfte in sich tragen, die wir von außen nicht sehen. Und solche Erfahrungen erinnern uns, warum wir diesen Beruf machen.

Wie verarbeiten Mediziner schwierige Begegnungen und Situationen idealerweise?

Im Team. Ein gutes Team fängt auf. Niemand sollte schwere Schicksale allein tragen müssen. Wir reden, reflektieren, unterstützen uns gegenseitig. Für mich ist Solidarität ein unverzichtbares Prinzip. Ich erlebe viele junge Kolleginnen und Kollegen, die unglaublichen Einsatz zeigen – und manchmal nicht wissen, wohin mit ihrer Belastung. Da ist es wichtig, Räume zu schaffen, in denen man Gefühle benennen darf, ohne bewertet zu werden.

Wo müsste man ansetzen, um Medizin menschlicher zu machen?

Auf allen Ebenen. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, die Zuwendung ermöglichen. Die Ausbildung muss dialogorientierter werden. Der klinische Alltag braucht genug Zeitfenster, um Menschen wahrnehmen zu können. Es reicht nicht, hoch qualifizierte Fachleute auszubilden, wenn sie dann im Minutentakt funktionieren müssen. Auch die Psychotherapie-Reform war wichtig, weil sie zeigt, dass Qualität und klare Strukturen notwendig sind, um Menschen früh und gut auffangen zu können. Wir brauchen niederschwellige Orte, an denen klar beurteilt wird: Was hilft dieser Person jetzt? Und wer kann es leisten?

Ein Teil der medizinischen Ausbildung findet nicht nur am Krankenbett statt, sondern auch im Rahmen von Übungen.

Richtig. Viele Situationen, die im klinischen Alltag vorkommen, kann man Studierenden nicht einfach „zeigen“ – etwa, wie man mit einem sehr fordernden, verängstigten oder aggressiven Patienten spricht. Oder wie man komplexe Sachverhalte übermittelt. Übungen mit Schauspielpatientinnen und -patienten ermöglichen dann, solche Gespräche realistisch zu üben: Sie reagieren emotional, sie widersprechen, sie sind misstrauisch oder sehr bedrückt. Die Studierenden müssen lernen, ruhig und sachlich zu bleiben, ihre eigenen Gefühle zu regulieren und gleichzeitig respektvoll und klar zu kommunizieren. Wir beobachten diese Gespräche live oder per Video und besprechen anschließend jeden Schritt: Warum hat der Studierende an dieser Stelle unterbrochen? Welche Formulierung war hilfreich, welche weniger?

Das ist wohl sehr eindrücklich ...

Ja, das ist für die Studierenden unglaublich lehrreich. Man sieht: Wie verändert sich eine Situation, wenn man auf eine Geste oder eine Mimik eingeht? Manche sind dann überrascht, wie viel ihre Haltung oder ihr Tonfall ausmachen. Und manche merken erst in diesem Rahmen, wie sehr sie unter Stress selbst in Muster fallen – zum Beispiel zu hart, zu kompliziert, zu schnell oder zu technisch zu werden.tigste.

Wie sehr profitieren Studierende davon?

Sehr. Weil es nicht darum geht, ein Skript „abzuspulen“, sondern, sich authentisch auf Menschen einzulassen. Diese Übungen schützen am Ende nicht nur Patienten, sondern auch die Studierenden selbst – weil sie lernen, was sie sagen können, wenn es schwierig wird, und wie sie trotz Stress menschlich bleiben.

Es gibt einen relativ neuen Begriff: „Medical Gaslighting“. Menschen fühlen sich in ihren Symptomen nicht gesehen oder anerkannt. Wie kommt es dazu?

Oft liegt es an diagnostischer Unsicherheit. Bei Long Covid oder ME/CFS wussten wir lange zu wenig. Wenn Ärzte keine klare Ursache finden, entsteht leicht der Reflex, das Problem zu psychologisieren. Besonders Frauen waren historisch davon betroffen – dieses Muster ist tief kulturell verankert. Der Fehler ist nicht, etwas nicht zu wissen, sondern dem Menschen nicht zu sagen: „Ihr Leiden ist real, auch wenn wir es noch nicht vollständig erklären können.“ Das wäre ein erster Schritt zur Entlastung und Richtung Heilung.

Wie wichtig ist kulturelle Sensibilität?

Außerordentlich wichtig. Ich hatte eine Patientin aus Ostanatolien, die nur sagen konnte: „Mein Nabel ist gefallen.“ Sie sprach kein Deutsch, ich kein Türkisch. Aber ihre Körpersprache zeigte tiefe Verzweiflung. Erst später erfuhr ich: Dieser Ausdruck bedeutet „Meine Existenz ist bedroht.“ Sie hatte durch eine Naturkatastrophe alles verloren. Hätte ich ihren Satz nur wörtlich genommen, wäre ihre akute Not unerkannt geblieben. Kultur bestimmt, wie Menschen Leid ausdrücken. Das muss man ernst nehmen.

Was bedeutet Selbstfürsorge für Menschen in heilenden Berufen?

Sie ist kein Wellnesskonzept, sondern eine Notwendigkeit. Schlaf, Ruhe, Träume und der sogenannte Resting State sind Formen der inneren Verarbeitung. Das Gehirn arbeitet da hochaktiv. Auch Ärztinnen und Ärzte brauchen diese Räume, sonst verlieren sie die Fähigkeit zur Empathie.

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Univ.-Prof. Henriette Löffler-Stastka, MedUni Wien

Wie müsste Medizin in zehn Jahren aussehen, damit sie menschlicher ist?

Sie muss den Menschen wieder mehr in den Mittelpunkt stellen. Wir haben an der MedUni Wien seit Jahrzehnten daran gearbeitet, das Curriculum patientenzentriert zu gestalten. Das heißt: nicht nur Fachwissen, sondern die Fähigkeit, Menschen in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen – mit ihren Ressourcen, Ängsten, Grenzen und manchmal auch mit ihrer Ohnmacht. Die personalisierte Medizin hilft uns sehr, weil sie präziser wird. Aber sie darf nicht dazu verleiten, den Faktor Mensch auszublenden. Technik ergänzt Beziehung – sie ersetzt sie nicht.

Welche Rolle spielt KI?

Eine wachsende, und ich sehe das durchaus positiv. Studierende haben etwa schwierige Gesprächssituationen mit KI geübt – mit erstaunlichem Erfolg. Wir haben die Dialoge anschließend gemeinsam analysiert. Künstliche Intelligenz kann sprachliche Muster aufzeigen und Gesprächsstrategien strukturieren. Aber das Wesentliche bleibt am Ende menschlich: die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten, mit Gefühlen umzugehen und jemanden wirklich zu sehen.

Was würden Sie jungen Medizinstudenten heute für ihren Weg mitgeben?

Bewahren Sie sich Ihre Neugier auf Menschen und Ihr Interesse an ihnen. Und verlieren Sie nie die Bereitschaft, Menschen zuzuhören. Wenn dieser innere Zugang verloren geht, ist das ein wichtiger Hinweis, sich Unterstützung zu holen. Medizin ist eine Wissenschaft – aber sie ist vor allem eine Beziehungskunst. Wer Menschen wirklich sehen will, kann unendlich viel lernen. Wer nur das Krankheitsbild sieht, übersieht das Wichtigste.

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