Medical Gaslighting: Wenn der Schmerz nichts zählt
„Da kann man nichts machen“ – Frauen erleben überdurchschnittlich oft, dass ihre Symptome relativiert werden.
Wenn Patientinnen und Patienten beim Arztbesuch trotz Schmerzen oder anderer Symptome nicht ernst genommen oder ohne sorgfältige Abklärung weggeschickt werden, spricht man von Medical Gaslighting.
Ursprünglich stammt der Begriff aus dem Theaterstück „Gas Light“ von Patrick Hamilton aus dem Jahr 1938, in dem durch psychologische Manipulation eine Person dazu gebracht wird, an ihrem eigenen Urteilsvermögen zu zweifeln.
Laut gängiger Definition beruht Medical Gaslighting meist nicht auf bewusster Manipulation, sondern auf Unwissenheit, Vorurteilen oder bevormundenden Kommunikationsmustern seitens der behandelnden Fachleute. Eine kanadische Übersichtsarbeit zeigt, dass Frauen Medical Gaslighting überdurchschnittlich häufig erleben. Demnach werden Symptome öfter relativiert oder nicht ausreichend abgeklärt, Diagnosen verzögern sich.
Besonders häufig kommt es bei Erkrankungen wie Endometriose, Long-Covid oder chronischen Schmerzerkrankungen dazu.
Spürbare Folgen
In medizinischen Settings nicht ernst genommen zu werden, hat spürbare Folgen. „Wer immer wieder Erfahrungen mit Medical Gaslighting macht, dem fällt der Zugang zum Gesundheitssystem schwerer“, erklärt Sozialpsychologin Julia Reiter von der Universität Wien.
Behandlungen verzögern, Zustände verschlechtern oder chronifizieren sich. „Das ist eine enorme psychische Belastung“, so Reiter. Viele Betroffene fühlten sich allein gelassen – mit der Folge, dass sie im schlimmsten Fall gar keine medizinische Hilfe mehr suchten.
Trotz Fortschritten in Medizin und Forschung gibt es bis heute geschlechtsspezifische Unterschiede in der Gesundheitsversorgung. Viele Erkrankungen von Frauen werden zu spät erkannt, falsch eingeschätzt oder unzureichend behandelt.
Analysen zeigen, dass dieser „Gender Health Gap“ nicht zufällig entstanden ist, sondern ein Ergebnis historischer und struktureller Forschungslücken. Frauen wurden über Jahrzehnte hinweg in klinischen Studien unterrepräsentiert, ihre Symptome missverstanden, frauenspezifische Erkrankungen wenig beachtet.
Unter anderem äußern sich Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronische Schmerzen bei Frauen anders. Hinzu kommen Leiden wie Endometriose, Wechseljahr- oder Regelbeschwerden oder Komplikationen rund um Schwangerschaft und Geburt, die unzureichend erforscht wurden. Ein Bericht von McKinsey und dem World Economic Forum (2024) zeigt: Frauen leben zwar länger als Männer, verbringen aber mehr Zeit in schlechter Gesundheit.
Würde der „Health Gap“ geschlossen, könnte die globale Wirtschaft jährlich um rund eine Billion US-Dollar (rund 860 Mio. Euro) profitieren – durch weniger Krankheit, höhere Produktivität und mehr Teilhabe von Frauen.
Reiter ist selbst im privaten Umfeld mit dem Thema in Berührung gekommen: „Ich bin Endometriose-Betroffene und habe ebenfalls erst Mitte 20 zum ersten Mal eine andere Antwort als ,Da kann man nichts machen’ bekommen.“
Roman Fleischhackl, Internist und Coach für medizinische Führungskräfte, nennt drei zentrale Faktoren, die im ärztlichen Alltag zu Medical Gaslighting beitragen können: Erstens sei es oft schwierig, dass Ärzte und Patienten auf Augenhöhe miteinander sprechen, besonders wenn tief verankerte Hierarchien wirken, weil das Ärztepersonal deutlich mehr medizinisches Fachwissen hat.
Zweitens seien Schmerzen und andere Beschwerden sehr individuell und schwer messbar, was die Einschätzung erschwere und zu Unsicherheiten oder Fehleinschätzungen führen könne.
Drittens müssten Ärzte häufig unter hohem Zeitdruck Entscheidungen treffen und greifen dabei auf Erfahrungswerte oder Faustregeln (Heuristiken) zurück. Ein Vorgehen, das zwar Zeit spare, aber auch Risiken berge.
Klischee spielt eine Rolle
Auch Stereotype, wie „die Annahme, dass Frauen im Vergleich zu Männern eher übertreiben, wenn sie ihre Schmerzen beschreiben, und dass im Umkehrschluss ihre Schmerzen nicht so schlimm sein können“ spielen Reiter zufolge eine Rolle.
Fleischhackl betont auch, dass Patienten in Diagnosegesprächen oft unter Schock stünden, was wiederum beeinflusse, wie sie Informationen aufnehmen. „Das kann Missverständnisse begünstigen.“
Viele Patientinnen und Patienten fühlen sich in Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten überfordert. „Fachsprache ist oft schwer zu verstehen, dazu kommen Sorgen und Ängste, die das Zuhören erschweren“, sagt Fleischhackl und rät, sich vor einem Termin genau zu überlegen, welche Fragen man stellen möchte, diese aufzuschreiben und am besten eine zweite Person mitzunehmen. Ein zentraler Schritt für Reiter sei, das Problem anzuerkennen, Patienten und Patientinnen zuzuhören und Feedback ernst zu nehmen.
Fleischhackl betont allerdings: Viele Ärzte und Ärztinnen würden sich um eine respektvolle und gleichwertige Beziehung bemühen, „deshalb darf man nicht pauschalisieren“. In Summe gebe es aber Aufholbedarf im Gesundheitssystem. „Es braucht mehr Offenheit, gegenseitigen Respekt und Vertrauen auf Augenhöhe.“
Die Autorin Anna Kostka war Praktikantin im KURIER.
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