Großneffe von Sigmund Freud: "Wir sind alle ein bisschen neurotisch"

Joseph Knobel Freud besitzt als Großneffe Sigmund Freuds einen David-Stern aus Murano-Glas und einen Brief von Letzterem.
Von Karin Lehner
Joseph Knobel Freud wandelt auf den Spuren von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Er ist selbst Psychologe und Psychoanalytiker. Beim Online-Interview mit dem KURIER sitzt er vor der Bücherwand seines Arbeitszimmers in Barcelona, wo er lebt, sowie forscht. Er ist unkompliziert und offenherzig, nur sein genaues Alter will er nicht verraten. „Um die 70. Wir Psychoanalytiker mögen Geheimnisse.“
KURIER: Ist der Name Freud Belastung oder Bürde?
Joseph Knobel Freud: Ein Geschenk! Es ist eine große Ehre, dass ich ihn als entfernter Verwandter tragen darf.
Wie ist Ihre Beziehung zu Wien?
Ich besuchte einmal im Jahr eine Cousine Sigmund Freuds. Doch sie starb vor zwei Jahren. Aber die hinterbliebenen Familienmitglieder treffen einander hier von Zeit zu Zeit, besonders die Psycho-analytiker und Psychotherapeuten. Aber wir sind nicht mehr viele. Wenn ich hier bin, statte ich dem Freud-Museum in der Berggasse immer einen Besuch ab. Ich mache Fotos und gehe in den Shop. Der Lieblingsschirm meiner Tochter stammt von hier (schmunzelt).
Sie haben jüdische Wurzeln. Fühlen Sie sich in Europa und Wien sicher?
Ich habe Glück, nicht verfolgt zu werden. Aber die Situation ist entsetzlich. Dennoch schäme ich mich auch für Benjamin Netanjahu (israelischer Ministerpräsident). Als Jude möchte ich klarstellen, dass unsere Abstammung nichts mit den Taten seiner Armee gegen das palästinensische Volk zu tun hat.

Joseph Knobel Freud ist selbst Psychologe sowie Psychoanalytiker.
Besitzen Sie Erinnerungsstücke an Sigmund Freund?
Er verstarb vor meiner Geburt, aber ich habe in meinem Beratungszimmer einen David-Stern aus Murano-Glas von ihm. Und ich bin im Besitz eines Briefs, den er einst an meinem Großvater schrieb.
Was ist die wichtigste Erkenntnis Ihres Vorfahrens?
Die Entdeckung des Unbewussten. Er lehrte uns, dessen Macht zu begreifen, schließlich prägt es jeden Mann, jede Frau und jedes menschliche Gehirn.
Was ist von Freuds Arbeit heute sonst noch relevant?
Die Erforschung des Problems Narzissmus und die Behandlung von psychischen Störungen. Er lehrte und hinterließ uns sehr gute Instrumente in puncto Psychotherapie und -analyse. Schließlich sind wir alle ein bisschen neurotisch.
Was ist heute anders?
Die Psychoanalyse ist moderner geworden. Im Unterschied zu Freud können wir unsere Patienten nicht mehr fünf Mal die Woche herbestellen, sondern nur ein Mal. Wir adaptierten die psychoanalytischen Theorien für Kinder, Jugendliche, Eltern und Familien, eines meiner Spezialgebiete. Meine Kollegen und ich sind ja nicht orthodox und folgen exakt der Psychoanalyse Freuds. Die Zeit wie Gesellschaft veränderte sich stark. Aber wir Psychoanalytiker arbeiten noch immer in seiner Tradition, auf der ganzen Welt.
Sie widmen sich der geistigen Gesundheit von Kindern. Wie steht es um sie?
Die Pandemie hinterließ in Kindern und Jugendlichen einen Marker. Sie litten unter der schwierigen Situation, plötzlich alleine zu Hause lernen und sich irgendwie adaptieren zu müssen. Einige verarbeiten noch immer Traumas, beispielsweise die Einschnitte im Sozialleben.
Welche Rolle spielen Kriege in der Entwicklung von jungen Menschen?
Ich weiß, wie schlimm Kriege für sie sind, denn ich arbeitete mit ukrainischen Kindern, die vor russischen Invasoren und ihren Attacken fließen mussten. An den typischen Migrationsproblemen leiden sie selbst wie die aufnehmende Gesellschaft. Schließlich müssen wir ein friedliches Zusammenleben organisieren. Doch unsere Gesellschaft ist grausam und aggressiv. Kinder und Jugendliche spüren den Einfluss des Bösen besonders. Wir haben den Glauben an eine gute Zukunft verloren und können ihnen nicht mehr sagen, du wirst eines Tages ein großartiger Anwalt, Arzt oder was auch immer werden, denn die Welt kann jeden Tag explodieren. Wir haben keine Sicherheit mehr.
Können sich Junge im Social-Media-Zeitalter noch altersgemäß entwickeln?
Ich bin kein Fan von TikTok und Instagram, weil ich sehe, wie groß die Probleme von Kindern sind, die den ganzen Tag auf Bildschirme schauen. Anstatt miteinander zu spielen, starren sie auf Geräte, weil sie von Computerspielen und Videos abhängig sind. Das ist nicht gut für die Entwicklung ihres Denkvermögens und des Gehirns.
Wie stehen Sie zur Geschlechtsanpassung Junger?
Ab 16 muss der Wunsch von Jugendlichen in puncto Anpassung respektiert und gehört werden. Aber wenn es nach mir geht, sollten davor weder Hormongaben noch eine Umwandlung stattfinden. Damit zerstören wir ihre Kindheit.
Kinder sollten nicht über Sex nachdenken und sagen, ich möchte eine Frau oder ein Mann werden. Wir sollten die Entwicklung stoppen und ihnen eine Kindheit gönnen. Wenn sie erwachsen sind, können sie immer noch entscheiden, wer sie sein und wie sie ihre Sexualität leben möchten. Die Tendenz zur Sexualisierung der Kindheit ist auch keine Freud’sche Idee. Er sprach zwar über die Erwachung ihrer Sexualität, aber nicht im genitalen Sinne. Das ist etwas völlig anderes.
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