"Homo Digitalis": Welche Neurosen uns 21. Jahrhundert fordern

Sie sollen das Leben erleichtern, die Digitalisierung bringt aber viele Menschen in Abhängigkeiten. Der Münchner Psychologe und Psychotherapeut Johannes Hepp erklärt, wie man die Zusammenhänge der digitalen Welt erkennt, wie man gegensteuert und warum Humor noch immer die beste Widerstandshandlung ist.
KURIER: Wie unterscheidet sich der moderne Mensch, den Sie Homo Digitalis nennen, vom früheren Menschen?
Johannes Hepp: Der Homo Digitalis ist auch nur ein Homo sapiens. Der Unterschied ist, dass sich dieser über Jahrtausende evolutionär langsam angepasst hat. Die rasanten Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten hat es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben. Wir müssen uns heute mit unfassbar viel Technik, Robotnik und virtuellen Welten herumschlagen. Das führt immer mehr zu psychischen Belastungen und Überforderung.
Neurosen gab es doch schon früher. Was ist anders?
Seit Sigmund Freud gibt es den Begriff der Gegenwartsneurosen. Diese waren aber zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausgeprägt. Neurosen sind ja kein Krankheitsbild, ich würde es als Überkompensation einer psychischen Belastung sehen. Und diese Belastungen haben sich verändert. Uns belasten vielmehr Ängste und uns überhaupt dauerhaft auf Beziehungen einzulassen. Heute gibt es Dating-Apps und -Plattformen, wo das Gefühl entsteht, es gibt unendlich viel Nachschub. Vor 100 Jahren hatte man das gegenteilige Problem, dass man zu wenig ausprobieren konnte. Das hat sich radikal verändert – mit ganz neuen Belastungen, die dadurch entstehen, zum Beispiel Einsamkeit.
Welche neuen Gegenwartsneurosen sind denn am häufigsten?
Jede Lebensphase hat andere Belastungen und Herausforderungen. Ich unterteile in die großen Bereiche Liebe, Arbeit und Sinn. Da haben wir schon sehr unterschiedliche Belastungen. Für jeden ist etwas anderes wichtig. Die Einsamkeitsproblematik wird etwa im Alter offenbarer. Da kommt die Sinnfrage ins Spiel, die ebenso viele beschäftigt, die noch im Arbeitsleben stehen. Bei den ganz Jungen geht es um die Verführung durch extrem süchtig machende Computerspiele, die sie überall am Smartphone spielen können. Das kann die Aufmerksamkeit abziehen von all den Entwicklungsaufgaben, die man eigentlich in der realen Welt bewältigen müsste, um sich zu entwickeln. Ich erlebe in meiner Praxis auch viel Cybermobbing, -stalking und Konsumsucht.

Psychotherapeut und Psychologe Johannes Hepp
Am auffälligsten in jüngster Vergangenheit ist das sogenannte Microtargeting. Diese Praxis von gezielter Fehlinformation über soziale Medien zu lancieren, um die Nutzer in die Irre zu führen. Big Data-Konzerne können längst herausfinden, wer von uns wie neurotisch ist – und mit welche Anreizen man noch neurotischer wird. Mit dem süchtigen oder neurotischen User verdient man am allermeisten, das ist ein Grundprinzip in der Digitalwirtschaft.
Kommen wir da überhaupt noch mal raus?
Ich will mit dem Buch keine Angst machen, sondern Mut. Wir leben in einer Umbruchphase, die neue Regeln erfordert. Für diese muss man zuerst die Zusammenhänge verstehen. Dafür ist psychische Widerstandskraft – Resilienz – entscheidend, damit wir wieder selbstbestimmter leben. Umso mehr Zeit wir vor Displays verbringen, umso weniger entscheiden wir selbst bewusst, wem wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Im Netz werden wir hin- und hergeleitet. In dieser Zeit hat vieles Wesentliche unsere Aufmerksamkeit nicht bekommen. Was wir aber brauchen, um uns gesund zu entwickeln.
Dazu gehört zum Beispiel Humor. Das war immer – und ist es noch – eine ganz wichtige Widerstandshandlung. Dass wir spielerisch auf die Wirklichkeit blicken und auch spielerisch damit umgehen können. Die Selbstironie ist dann der Gipfel des Humors. Dieser lebenserprobte Realismus, wie ich es gern nenne, ist der Weg heraus aus der Neurose.
Buchtipp: Johannes Hepp, Die Psyche des Homo Digitalis, Verlag Kösel, 22,70 Euro
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