„Extrem unreif“
„Wenn sie im Krankenhaus aus dem Brutkasten gehoben wurde, konnten wir sie mit zwei Händen wärmen“, erinnert sich Mutter Silke, deren Leben nach dem Lockdown Mitte März ebenso wie das Leben ihrer Tochter ernsthaft bedroht war.
Lotte ist eines von gut 200 Babys, die jedes Jahr mit weniger als 1500 Gramm in der Klinischen Abteilung für Neonatologie am Wiener AKH versorgt werden. Die Eltern erfuhren von den Ärzten, dass sie in deren Fachterminologie „extrem unreif Frühgeborenes“ genannt wird. Und dass jetzt jede Stunde für Mutter und Kind extrem gefährlich ist.
„Alle haben uns auf der Station sehr professionell und mit großem Einfühlungsvermögen betreut“, sagt Vater Thomas. Trotz der nachvollziehbar strengen Auflagen in Pandemiezeiten durfte er bei der Geburt seiner Tochter dabei sein.
Tag der Entscheidung
An einem Sonntagabend war es dann soweit. Er wurde angerufen. Die Ärzte hatten eine Entscheidung getroffen, erinnert sich auch Angelika Berger, die diese Abteilung leitet. Auf der einen Seite mussten sie den Blutdruck der bereits schwer mitgenommenen Mutter im Auge behalten. Auf der anderen Seite war mittels Doppler-Ultraschall zu klären, ob das Mädchen mit den modernen Mitteln der Medizin außerhalb des Mutterleibes überleben kann.
Der Volksmund nennt Babys wie ihre Tochter Frühchen, was fast ein wenig zu niedlich klingt. Silke erinnert sich an die Achterbahn ihrer Gefühle unmittelbar nach der Geburt: „Zum einen war ich froh, dass jetzt Tatsachen geschaffen waren und dass mein Kind bestmöglich versorgt war. Zum anderen habe ich es einfach nicht gewagt, mich zu freuen.“
Zu fragil war Lotte gut drei Monate vor dem regulär geplanten Geburtstermin. Vor allem die Lunge, aber auch andere innere Organe sind für das Überleben eines zu früh geborenen Kindes noch nicht ausreichend gereift, erläutert Frau Professor Berger.
Für die Eltern begann daher die bange, nicht enden wollende Zeit des Händchenhaltens und Daumendrückens. Aufgrund von Corona durfte damals immer nur ein Elternteil ins Spital zum Kind.
Doch dann, am 6. Juli, immer noch drei Wochen vor dem regulären Geburtstermin, war das Mädchen soweit über den Berg, dass es zu seinen Eltern nach Hause durfte.
„Der 6. Juli ist Lottes zweiter Geburtstag“, sind Silke und Thomas übereingekommen. Die Freude über ihr erstes Kind überstrahlt heute – beim gemeinsamen Spaziergang durch den Auer-Welsbach-Park – die Tage der Sorge und der Verzweiflung im Frühjahr dieses Jahres.
Bis zur Entlassung ihrer Tochter konnten sie immerhin ihr Bett und ihr Zimmer fertig einrichten. Lottes zur Schau gestellte Gelassenheit und Geduld führen die Eltern heute auch auf ihre intensiven ersten Lebenserfahrungen zurück.
Nach einer Runde durch den Park öffnet die kleine Prinzessin ihre Augen und lässt ihren Vater wissen, dass sie getragen werden möchte. „Vielleicht ist es ja ein Vorteil, dass ich sie so oft im Krankenhaus in meine Arme nehmen konnte“, sagt er. „Ich habe das Gefühl, dass sie sich auch an mich gut gewöhnt hat.“
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