Obwohl seit 2021 hinsichtlich Alter, Größe und Körperform auch bewusst von klassischen Model-Standards abgewichen wird, entsprechen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meist einem schlanken oder muskulösem Ideal. Forschende der Universität Osnabrück haben nun erstmals aus psychologischer Sicht analysiert, welche Auswirkungen das Ansehen der Sendung auf Frauen mit und ohne bestehende Essstörungen hat. An der Studie nahmen 179 Frauen teil, die sich die 18. Staffel der Castingshow zuhause ansahen. Jeweils vor, während und nach jeder Folge gaben sie Auskunft über ihre Stimmung, ihr Selbstwertgefühl und ihre Einstellung zum eigenen Körper.
Nach der Sendung waren Frauen unzufriedener mit dem Körper
„Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl Frauen mit als auch ohne Essstörung nach dem Anschauen der Sendung unzufriedener mit ihrem eigenen Körper waren als zuvor“, erklärt Studienautorin und Psychologin Friederike Holtmann von der Uni Osnabrück. „Besonders Frauen mit Essstörungen berichten zudem von einer Verschlechterung der Stimmung sowie der verstärkten Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen ihrem eigenen Körper und ihrem verinnerlichten Ideal eines optimalen Körpers. Diese Diskrepanz zum eigenen Schönheitsideal nahm im Laufe der Staffel Germany’s Next Topmodel weiter zu.“
Laut den Studienautoren haben Model-Casting-Shows potenziell negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Frauen. Vor allem Frauen mit Essstörungen schienen anfällig für diese Einflüsse, was darauf hindeute, dass solche Formate zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen beitragen können, schreiben die Forschenden in der Studie, die in der Fachzeitschrift European Eating Disorders Review erschienen ist.
Auch Brigitte Lenhard-Backhaus, Mitbegründerin des Therapiezentrums intakt für Menschen mit Essstörungen, teilt diese Einschätzung. „Viele Jugendliche in der Pubertät schauen die Sendungen und identifizieren sich mit den gezeigten Models. Das führt zu Vergleichen und zwar in einer Phase, in der sie erst lernen, sich selbst zu akzeptieren“, betont Lenhard-Backhaus. Immer wieder seien Castingshows Thema in Beratungsgesprächen von Menschen mit Essstörungen und deren Angehörigen. „Oft erzählen Eltern bei Erstgesprächen, dass Jugendliche glauben, sie müssen den im Fernsehen gezeigten Idealen entsprechen. Vielen Jugendlichen ist gar nicht bewusst, wie schnell sie in eine Essstörung hineinschlittern können“, sagt Lenhard-Backhaus.
Meist beginnen Essstörungen mit einem übermäßigen Fokus auf Gewicht und Aussehen. Frauen, aber auch Männer, beginnen sich intensiv mit ihrem Körperbild zu beschäftigen, setzen sich unrealistische Ziele, um abzunehmen oder ihren Körper zu verändern. Das Streben nach einem bestimmten „idealen“ Körper kann zu einem ungesunden Umgang mit Nahrungsmitteln führen. Häufig beginnt es mit einer Diät, mit dem Wunsch Gewicht zu verlieren, zunehmend wird das Essen eingeschränkt – bis hin zu extrem restriktiven Essgewohnheiten. Backhaus-Lenhard: „Anfangs bekommen viele Anerkennung, wenn sie abnehmen, was den Prozess verstärkt. Später kommen sie nur schwer wieder aus der Essstörung heraus.“
Bilder von vermeintlich perfekten Körpern
Schon frühere Untersuchungen zeigen: Der Druck, einem bestimmten Schönheitsideal zu entsprechen, kann durch Medien und soziale Plattformen verstärkt werden. Bilder von vermeintlich perfekten Körpern und die ständige Bestätigung durch Likes und Kommentare können den Drang, das eigene Aussehen zu verändern, noch intensiver machen. Dass vonseiten der Sendungsmacher auch auf Diversität gesetzt wird, hält Lenhard-Backhaus für „scheinheilig“. Nach wie vor seien Models überwiegend sehr dünn.
Lenhard-Backhaus spricht sich gegen Castingshows wie „Germany’s Next Topmodel“ aus. Wird die Sendung geschaut – sie ist ab 12 Jahren freigegeben –, sollte das möglichst gemeinsam mit den Eltern passieren. „Eltern sollten sich dafür interessieren, was ihre Kinder sich im Fernsehen oder auf Social Media und im Internet generell ansehen und mit ihnen darüber sprechen. Man kann etwa fragen, wie sie es finden, dass die Teilnehmerinnen in einer solchen Konkurrenzsituation sind oder wie sie die Bewertungen durch die Jury oder durch Heidi Klum empfinden. Gleichzeitig sollte man darüber sprechen, was das für sie heißt und wie sie mit ihrem Körper umgehen.“ Thematisiert werden könne auch der „sehr unwürdige Umgang mit den Teilnehmerinnen, etwa wenn sie umgestylt werden ohne vorher gefragt zu werden“, betont die Expertin für Essstörungen.
Anzeichen für Essstörungen
Auch in den Schulen sollten die in Fernsehshows oder auf Social Media vermittelten Körperbilder behandelt werden. „Medienkompetenz ist essenziell, um sich der potenziellen Auswirkungen bewusst zu werden und ein gesundes Selbstbild zu fördern“, betont Studienautorin Holtmann. Die Bedeutung einer kritischen Auseinandersetzung mit medialen Schönheitsidealen nehme weiterhin zu.
Anzeichen, die auf den Beginn einer Essstörung hindeuten können, sind häufige Kommentare über das Gewicht oder Aussehen, das Vermeiden von sozialen Situationen, in denen Essen eine Rolle spielt, übermäßige Bewegung oder Sport, um Kalorien zu verbrennen, Veränderungen im Essverhalten wie extreme Diäten oder ein zurückgehendes Interesse an früheren Aktivitäten oder sozialen Beziehungen. Bemerkt man, dass diese Anzeichen auftreten, ist es wichtig, frühzeitig Unterstützung zu suchen. Essstörungen verursachen ernsthafte gesundheitliche Probleme, die professionelle Hilfe benötigen. Sie sind behandelbar – je früher man eingreift, desto besser sind die Heilungschancen.
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