Die Ärztinnen und Ärzte des Kinderspitals von Philadelphia im US-Bundestaat Pennsylvania sprechen von einem "historischen medizinischen Durchbruch", und die New York Times titelt sinngemäß, "Baby mit der weltweit ersten personalisierten Gentherapie ist geheilt".
Tatsächlich wurde innerhalb von nur sieben Monaten für ein Baby mit einem extrem seltenen genetischen Defekt eine Therapie entwickelt, die genau auf dieses Kind zugeschnitten ist. Heute ist KJ, wie das Kind in den Medien genannt wird, neuneinhalb Monate alt – und es sieht danach aus, dass die Therapie erfolgreich verlaufen ist. Das hat nicht nur das Leben von KJ gerettet, sondern bedeutet auch Hoffnung für Menschen mit vielen anderen ganz seltenen genetischen Erkrankungen.
KJ wurde vor neuneinhalb Monaten geboren. Er war erst zwei Tage alt, als die Ärzte bemerkten, irgendetwas ist nicht in Ordnung: KJ war ungewöhnlich lethargisch, trank nicht und hatte Schwierigkeiten, die Körpertemperatur aufrecht zu erhalten.
Bald war die Ursache klar: Der Ammoniumgehalt in seinem Blut war ungewöhnlich hoch. Ursache dafür war eine sehr seltene, angeborene Stoffwechselerkrankung– nur eines von 1,3 Millionen Neugeborenen ist davon betroffen. Eine einzige genetische Veränderung in seiner Erbsubstanz führt dazu, dass es zu einem Mangel eines bestimmten Enzyms in der Leber (CPS1) kommt – es ist für den Abbau und die Ausscheidung von Ammonium verantwortlich.
Die Folge dieser Mutation ist ein krankhaft erhöhter Ammoniumgehalt im Blut, der zu neurologischen Schäden und Entwicklungsstörungen führt. Die Hälfte der Kinder mit diesem Enzymmangel stirbt in der ersten Lebenswoche. Die einzige Überlebenschance ist eine Lebertransplantation.
Das Ärzteteam reagierte rasch: KJ kam an die Dialyse, um das Ammonium aus seinem Blut zu filtern. Gleichzeitig erhielt er eine proteinarme Ernährung – Proteine haben einen relativ hohen Stickstoffgehalt. Seine Mutter Nicole sagt: "KJ war von Anfang an ein Kämpfer."
Gentherapie: Nur sieben Monate bis zur Zulassung
In den kommenden rund 200 Tagen arbeitete das Forschungsteam daran, eine Gentherapie zu entwickeln, die nur den einen einzigen veränderten DNA-Baustein, eine Base, behandelt – also den falschen Baustein entfernt und den richtigen Baustein einsetzt.
Dies gelang mit einer Weiterentwicklung der sogenannten Genschere CRISPR/Cas9. Die neue Therapie wurde zunächst in Zellkulturen, dann an Mäusen und auch Affen getestet – und von der US-Arzneimittelbehörde zugelassen. Das alles in nur sieben Monaten. Normalerweise dauere es bis zu zehn Jahre, eine derartige Therapie zu entwickeln, sagt Julian Grünewald, Professor für neue Methoden der Gentherapie an der TU München, in einer Stellungnahme an das Science Media Center. "Von daher muss man das Ergebnis einer solchen Translation in sieben Monaten, ohne kritische Nebenwirkungen und mit bereits andeutungsweise positiven Effekten im Patienten, wirklich als herkulische Leistung bezeichnen."
KJ erhielt die erste Dosis einer maßgeschneiderten Infusion mit dem passenden DNA-Baustein im Februar dieses Jahres. Bei der Verabreichung gab es keine Komplikationen, "KJ wächst und gedeiht gut", heißt es in einer Mitteilung des Kinderspitals. In seinen Wangen zeigte sich erstmals ein wenig Farbe.
Weitere Infusionen folgten im März und April, ebenfalls ohne Nebenwirkungen. KJ kann mittlerweile deutlich mehr Eiweiß zu sich nehmen, ohne dass der Ammoniumgehalt im Blut steigt. Auch die Dosis der Medikamente zur Ammoniumreduktion konnte etwa auf die Hälfte der Anfangsdosis reduziert werden.
Hoffnung auf langfristigen Erfolg ist groß
Ob KJ tatsächlich geheilt ist, kann derzeit noch nicht final abgeschätzt werden. Aber die "Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Nutzens ist hoch", meint Genetiker Grünewald. Denn in Experimenten mit Primaten habe sich ein stabiler Effekt in der Leber über Jahre hinweg gezeigt.
"Obwohl KJ nur ein Patient ist, hoffen wir, dass er der erste von vielen ist, der von einer Methode profitiert, die auf die Bedürfnisse eines einzelnen Patienten zugeschnitten werden kann", sagt Kinderärztin Rebecca Ahrens-Nicklas, Leiterin des Programms für Gentherapie des Children's Hospital of Philadelphia. Die Kinderärztin hatte anfangs die Sorge, den Eltern "eine falsche Hoffnung zu machen - bis wir an den Punkt kamen wo wir dachten, wir könnten tatsächlich eine Therapie für KJ entwickeln".
Zwar gibt es auch in der EU bereits eine Gentherapie, die auf dem Einsatz der Genschwere CRISPR/Cas9 beruht: Sie ist für die Therapie von zwei Bluterkrankungen zugelassen: Der Sichelzellanämie und der beta-Thalassämie. Beide Erkrankungen haben gemeinsam, dass der Blutfarbstoff Hämoglobin fehlerhaft gebildet wird.
Aber nur wenige genetische Erkrankungen können mit einem solchen "one-size-fits-all"-Ansatz behandelt werden, weil einfach zu viele unterschiedliche genetische Varianten die Ursache sind.
Weltweit leben 300 Millionen Menschen mit einer der 6.000 bis 8.000 sogenannten "seltenen" Erkrankungen. 80 Prozent dieser Fälle sind genetisch verursacht.
Sechs bis acht Prozent der Bevölkerung in Europa sind von einer seltenen Erkrankung betroffen. In Österreich sind das rund 500.000 Personen.
In der Europäischen Union werden seltene Erkrankungen über ihre Häufigkeit definiert. Ein Krankheitsbild gilt dann als selten, wenn zu einem beliebig wählbaren Stichtag nicht mehr als 5 von 10.000 Einwohnerinnen bzw. Einwohner in der EU von dieser Krankheit betroffen sind.
"Für die Mehrzahl der seltenen und ultra-seltenen Erkrankungen gilt, dass die ursächliche Genveränderung von Patient zu Patient variiert", heißt es in einem Statement der Humangenetikerin Maja Hempel vom Universitätsklinikum Heidelberg an das Science Media Center. "Fast jeder Patient hat seine eigene 'private' Genveränderung, die die Erkrankung verursacht." Für jeden Patienten müsse deshalb eine eigene Gentherapie hergestellt werden.
Die Therapie von KJ sei aus zwei Gründen bemerkenswert:
"Erstens zeigt der Fallbericht, dass es möglich ist, für eine einzelne genetische Veränderung eine spezifische Gentherapie zu entwickeln.
Zweitens zeigt er, dass es möglich ist, innerhalb kürzester Zeit eine spezifische Gentherapie zur Zulassung zu bekommen."
Glückliche Eltern: "Licht am Ende des Tunnels"
Auch wenn es sich um einen Einzelfall handelt: Die Nachricht von der bisher erfolgreichen Therapie von KJ ist nicht nur deshalb bedeutend, weil sie sein Leben gerettet hat. Sie beweist auch die Machbarkeit der schnellen und sicheren Anwendung einer solchen Therapie. "Ich habe so viele Patienten mit genetischen Erkrankungen, für die es derzeit keine gute Therapiemöglichkeit gibt. Ich hoffe, dass es in zehn Jahren für die meisten Patientinnen und Patienten derartige zielgerichtete und individualisierte Therapien geben wird." - Kardiologe Kiran Musunru geht sogar noch einen Schritt weiter: "Für mich ist es sogar mehr als Hoffnung - es wird so passieren. Wir haben den Weg gezeigt, und viele Mediziner weltweit werden versuchen, ebenfalls diesen Weg zu gehen."
Mit jeder Dosis gelang es KJ besser, das Eiweiß in seiner Nahrung zu verarbeiten. Er wurde aktiver, lebhafter, aufgeweckter. Das Team der Ärztinnen und Ärzte ist zuversichtlich, dass die personalisierte Therapie funktioniert hat. Endgültig wissen wird man es erst in einigen Jahren.
KJ konnte mittlerweile das Spital verlassen. "Es fängt jetzt endlich an, wie das Licht am Ende des Tunnels auszusehen“, sagt seine Mutter Nicole. "Wenn ich zurückblicke auf die kleine Erdnuss von weniger als zwei Kilogramm, die er nach der Geburt war, und jetzt dieses große, stämmige, gedeihende Baby sehe, bin ich so froh, dass wir ihn dazu bringen konnten, uns zu zeigen, was er tun kann und was aus ihm werden kann."
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