Emotionale Verletzungen: Was die Psyche nach einem Trauma stärkt
Gesundheit gilt als „Megatrend“, hieß es im Report des Zukunftsinstituts. Psychische Probleme und Leiden rücken vermehrt in den Fokus – Stichwort: „Mental Health“. Ein Thema, das aktuell in aller Munde ist, heißt Trauma – in den sozialen Medien ebenso wie auf dem Buchmarkt, der von Ratgebern geflutet wird. Kritiker sprechen gar von „Trauma-Inflation“, verbunden mit der Frage, ob Trauma nun das neue „Burn-out“ oder „ADHS“ sei.
Ob dieser Hype positive Seiten hat, was Trauma wirklich bedeutet und wo Betroffene seriöse Hilfe finden, erklärt die deutsche Traumatherapeutin Verena König. Die Bestsellerautorin („Bin ich traumatisiert?“, GU) arbeitet seit 20 Jahren in eigener Praxis und ist vielgehörte Podcasterin.
KURIER: Das Thema „Trauma“ erfährt derzeit einen Hype – wie finden Sie das?
Verena König: Der Begriff Trauma wird häufig verwendet, aber nicht differenziert genug. Als Therapeutin freue ich mich, dass das Bewusstsein dafür steigt. Andererseits besteht die Gefahr, dass der Begriff durch den Verlust professioneller Differenzierung verwässert oder für Dinge verwendet wird, die nicht auf ihn zutreffen. Es wird oft pathologisiert, was im Grunde alltäglich ist und zum Leben gehört.
Der Traumabegriff hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert …
Früher dachte man, ein Trauma sei ein einmaliges Erlebnis, wie ein Unfall, eine Katastrophe, eine Vergewaltigung. Heute ist bekannt, dass auch mehrere – anscheinend kleinere – Ereignisse zu Traumafolgen führen können. Oder sequenzielle, lang andauernde Stresssituationen, wie eine Kindheit mit Eltern, die nicht in der Lage sind, zuverlässig fürsorglich zu sein. Deshalb müssen wir sehr genau auf die Symptome und Ursachen schauen.
Wann kann man tatsächlich von einer Störung infolge eines Traumas sprechen?
Das autonome Nervensystem ist in der Lage, mit stressigen Situationen umzugehen. Wenn wir aufgrund einer emotionalen Belastung in Stress geraten, kommt es zu einer psychischen und physischen Reaktion. Wir fühlen uns schlecht, können nicht schlafen, sind unruhig und ängstlich. Das ist so vorgesehen, weil wir uns auf diese Weise einer Herausforderung stellen, uns wehren oder fliehen können. Manchmal ist das Nervensystem jedoch so überfordert, dass es aus der Stressreaktion nicht mehr herausfindet. Das Stresserleben dauert an und ist nicht mehr zu bewältigen. Es entstehen Symptome aus dem Traumaspektrum, die chronisch werden können. Dann wird es immer schwieriger, sich stabil und gesund zu fühlen.
„Wunde“
Der Begriff „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“.
Arten von Trauma
Man unterscheidet das einmalige, kurz andauernde Trauma (Unfall, Katastrophe) und das mehrmalige, lang andauernde Trauma (aufgrund von Misshandlungen, Vernachlässigung in der Kindheit, z. B.) Zweiteres gilt als gravierender, überhaupt wenn es von anderen Menschen verursacht wurde.
Traumafolge
Halten Traumasymptome länger an, kann das auf eine Traumafolgestörung wie die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hinweisen. Typisch dafür: Flashbacks, Albträume, Schlafstörungen, wechselnde Stimmung, das Gefühl, wie betäubt zu sein.
Sind wir alle auf irgendeine Weise traumatisiert?
Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind davon überzeugt, und sagen, es handle sich um eine Epidemie. Das gehört für mich zu den undifferenzierten Aussagen. Weil damit übergangen wir, dass Menschen auch eine große Resilienz mitbringen. Wir sind dafür gemacht, Stress zu bewältigen, haben eine biologische Ausstattung, um aus der Bahn fliegen und etwas potenziell Traumatisches erleben zu können, ohne dass zwingend Traumafolgen entstehen müssen. Ich würde aber sagen, dass jeder Mensch in jeder Gesellschaft, in jedem Land auf dieser Welt potenziell traumatische Erfahrungen macht – und zwar mehrere. Aber nicht jeder erleidet deshalb Schaden, der sich in einer Traumafolgestörung ausdrückt. Wir müssen Menschen im Sinne guter Diagnostik genau anschauen, um behaupten zu können, sie wären traumatisiert.
Statistiken zeigen aber, dass fast jeder Mensch von einem Bindungs- oder Entwicklungstrauma betroffen ist.
Es gibt Zahlen aus Umfragen und Stichproben durch viele Bevölkerungsschichten und Altersgruppen, die zeigen, dass mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung in der Kindheit Gewalt oder Vernachlässigung erfahren und daher die besten Voraussetzungen hat, irgendwann Traumafolgen zu erleben.
Viele nutzen den Boom und bieten einfache Selbsthilfestrategien an. Wie findet man seriöse Angebote?
Es sollte ersichtlich sein, dass sich jemand mit der Materie gut auskennt und wissenschaftlich fundierte Quellen nennt. Tiktoker, die nur Erfahrungen schildern, gehören nicht dazu. Es müssen nicht immer ausgebildete Traumatherapeuten sein, aber es ist wichtig, dass adäquates Wissen vorhanden ist. Um Traumafolgen so behandeln zu können, dass sich die Symptome nicht womöglich noch verschlimmern.
Es wird oft mit simplen Heilsversprechen gelockt.
Ja, die sind eine rote Flagge. Derzeit gibt es eine Schwemme an Büchern zum Thema Vagusnerv und Nervensystem, die Komplexität des Themas wird sehr reduziert.
Traumatisierte Menschen brauchen intensive therapeutische Unterstützung, um zurück ins Leben zu finden. Das ist oft kostspielig. 2012 wurde in Wien der Verein „Fairtherapy“ gegründet, um Betroffenen eine qualifizierte Traumatherapie zu ermöglichen. Seit 2015 wird in Kooperation mit der Österreichischen Gesundheitskasse Gruppentherapie angeboten, seit April 2023 gibt es die Zusammenarbeit auch mit der KFA.
Sabine Dungl-Nemetz ist eine von vielen PsychotherapeutInnen, die sich bei „Fairtherapy“ engagieren. Auch sie begrüßt es, dass mehr Bewusstsein für das Thema existiert: „Mir ist lieber, es wird einmal zu viel in diese Richtung geschaut, als einmal zu wenig. Weil ein Trauma, das unbeachtet bleibt, sehr schädlich sein kann.“ Gegeben hätte es den Begriff zwar immer schon, doch in den vergangenen Jahren kam es zu einem enormen Wissenszuwachs: „Das Thema ist in Entwicklung, es werden ständig neue Erkenntnisse gefunden. Vor allem hat man erkannt, dass es nicht immer auf die Traumaursache ankommt, sondern wie jemand damit umgehen kann.“
Ressourcenorientiert
Trauma hat viele Gesichter – und Auslöser. Vom einmaligen Ereignis bis zur länger anhaltenden negativen Erfahrung. „Außerdem arbeiten wir mit vielen Erwachsenen, die bis dato ein gutes Leben hatten, aber aufgrund eines bestimmten Ereignisses aus der Bahn geworfen wurden, weil ein altes Trauma reaktiviert wurde“, so Dungl-Nemetz.
Neue Erkenntnisse fließen auch in die Praxis ein: „So wird in der Gruppentherapie nicht über das traumatische Ereignis gesprochen, weil das zu einer Re-Traumatisierung führen würde, das ist unerwünscht. Heute arbeiten wir vor allem ressourcenorientiert, indem wir schauen, was funktioniert und gut läuft, um den gesunden Anteil und die Resilienz zu steigern. Dabei geht es um das Hier und Jetzt und die Frage, was ein Mensch tun kann, damit es ihm heute besser geht.“
Info: fairtherapy.at
Sie behaupten, dass das Wissen über Trauma die Kraft hat, die Welt zu verändern.
Ja. Es ist gesellschaftlich relevant, weil im Wissen über Trauma und Traumadynamik ein grundlegendes Wissen über menschliche Verletzlichkeit steckt, die sich medizinisch und neurobiologisch erklären lässt und so greifbarer wird. Indem wir Trauma verstehen, wird klar, dass Menschen verletzlich sind und fortwährende Verletzungen dazu führen, dass Menschen einander verletzen.
Ein Beispiel dafür?
Eine traumatisierte Mutter muss viele Gefühle wegsperren, damit sie Alltag, Familie und Beruf unter einen Hut kriegt. Wenn sie ein hohes Stresserleben hat und über längere Zeit überfordert wird, kann es sein, dass ihre Resilienz brüchig wird und sie beispielsweise schreit oder Gewalt ausübt. Was sie nie tun wollte, aber aus der Überforderung heraus geschieht. In diesem Moment fehlt die Emotionsregulation, die jemand ohne Trauma im Hintergrund vielleicht hätte. Auf diese Weise wird Trauma weitergegeben. Meist schauen wir aber nur auf das Verhalten der Mutter und sagen, dass sie anders handeln muss. Statt zu fragen: Was ist mit dir, dass du dein Kind schlägst? Warum passiert das? Was fühlst du? Welche Wunde wurde berührt? Was brauchst du? Traumainformiert in die Welt zu blicken, würde bedeuten, dass wir fragen, warum sich jemand so schlecht fühlt, dass er auf eine bestimmte Weise handelt.
Das würde eine viel empathischere und menschlichere Grundhaltung mit sich bringen und mehr Prävention ermöglichen. Dabei sollten wir nie vergessen, wie viel Kraft wir entwickeln und mit entsprechender Unterstützung selbst aus einem sehr, sehr schwierigen Schlamassel herausfinden können.
Kommentare