Diabetes-Spezialist: "Die Früherkennung gehört umgestellt"

Eine Hand hält ein Blutzuckermessgerät, das einen Wert von 98 mg/dL anzeigt.
800.000 Menschen leiden in Österreich an Diabetes. Ein normales Leben mit der chronischen Erkrankung ist möglich. Moderne Behandlungskonzepte erreichen aber längst nicht alle.

Ein kleiner Stich in die Fingerkuppe, ein Tropfen Blut wird vom Teststreifen aufgesogen – das Messgerät zeigt eine Zahl: Für Hunderttausende Menschen in Österreich gehören Blutzuckermessungen zum Alltag. Rund 800.000 Männer und Frauen leben hierzulande mit Diabetes. Weitere 300.000 leiden Schätzungen zufolge an Prädiabetes, der Vorstufe der chronischen Erkrankung.

Diabetes ist nicht gleich Diabetes. Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung und entsteht, wenn das Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse zerstört – Betroffene müssen Insulin spritzen. Typ-2-Diabetes – rund 90 Prozent der Diabetiker sind davon betroffen – dagegen entwickelt sich schleichend, meist im Erwachsenenalter, und hängt eng mit Lebensstilfaktoren wie Ernährung und Bewegung zusammen.

Wie Betroffene von modernen Therapien profitieren, woran es bei der Versorgung mangelt und warum Prävention entscheidend ist, erklärt Bernhard Ludvik, Vorstand der 1. Medizinischen Abteilung mit Diabetologie, Endokrinologie und Nephrologie Klinik Landstraße.

KURIER: Gibt es in der Bevölkerung ein Bewusstsein dafür, dass Übergewicht und Bewegungsmangel zu einer chronischen Erkrankung, Typ-2-Diabetes, führen können?

Bernhard Ludvik: Ich denke schon, dass die meisten Menschen mit Typ-2-Diabetes wissen, dass krankhaftes Übergewicht der größte Risikofaktor ist. Wobei auch die genetische Veranlagung eine Rolle spielt. Nicht jeder, der übergewichtig ist, ist auch Diabetiker. Aber Adipositas erhöht das Risiko, Diabetes zu entwickeln, um das Sieben- bis Zehnfache.

Welche Rolle spielt Stress?

Prinzipiell sind Fehlernährung und Bewegungsmangel ursächlich für Adipositas. Stress ist aber ein Faktor, der das Essverhalten negativ beeinflussen und auch zu einer ungünstigen Fettverteilung beitragen kann.

Sind Betroffene gut genug versorgt?

Wir haben eine ungleiche Versorgung. In Ballungszentren können wir Betroffene in Diabeteszentren sehr effizient schulen und behandeln und sie in die Hände der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen übergeben. Diese Strukturen und auch Spezialistinnen und Spezialisten fehlen auf dem Land. Gleichzeitig mangelt es im niedergelassenen Bereich an Zeit und Personal, um Diabetiker gut zu beraten, wie sie den Blutzucker messen, was sie essen sollen und wie sie Komplikationen vermeiden können.

Die Diabetes Gesellschaft kritisiert, dass der Zugang zu modernen Medikamenten und technischen Systemen, die Menschen mit Diabetes ein nahezu uneingeschränktes Leben ermöglichen können, vielerorts fehlt.

Menschen mit Diabetes werden innovative Medikamente, konkret Ozempic, bereits zur Verfügung gestellt und von der Krankenkasse bezahlt. Für Mounjaro gibt es noch keine Kostenerstattung. Die Kosten für eine alleinige Adipositas-Behandlung werden aber nicht übernommen, was schlecht ist, da man so den Ausbruch von Diabetes verhindern und verzögern könnte. Auch die medikamentöse Therapie braucht ärztliche Begleitung, um einer Fehlernährung und einem Abbau der Muskelmasse vorzubeugen. Erleichterungen braucht es beim Zugang zu neuen Zuckermesssystemen, mit denen man laufend den Blutzucker messen, am Handy ablesen und reagieren kann. Menschen, die diese Systeme verwenden, sind deutlich besser eingestellt als jene, die den Blutzucker punktuell per Fingerstich messen. Denn die Menschen lernen, was mit dem Blutzucker passiert, wenn man z. B. eine Pizza isst. Man hat also einen sehr guten Lerneffekt.

Bei der kostenlosen Vorsorgeuntersuchung wird der Blutzucker angeschaut. Ist das wichtig für die Früherkennung?

Die Früherkennung gehört umgestellt. Was wir bräuchten, wäre die Bestimmung des HbA1c-Wertes im Zuge der Vorsorgeuntersuchung. Er gibt an, wie hoch der Blutzucker in den letzten acht bis zwölf Wochen im Durchschnitt war. Damit lässt sich das Vorstadium von Diabetes sehr verlässlich früh erkennen – um präventive Maßnahmen einzuleiten.

Wie sieht sinnvolle Diabetes-Prävention aus? Es braucht eine möglichst breite Aufklärung über Ernährung und Bewegung. Diabetes beginnt im Mutterleib, weswegen wir bei jeder Frau schauen, ob sie in der Schwangerschaft einen Gestationsdiabetes (Schwangerschaftsdiabetes, Anm.) entwickelt. Ganz wichtig sind die ersten Lebensjahre. Denn wir wissen, dass wenn ein Kleinkind bereits mit zwei Jahren zu viel Gewicht hat, sich das bis ins Erwachsenenalter durchschlägt.

Im Normalfall normalisiert sich der Zuckerstoffwechsel nach der Geburt ohne Maßnahmen. Ein deutlich höheres Risiko, später Typ-2-Diabetes zu entwickeln, bleibt. Wie sieht die Nachsorge aus? 

Acht Wochen nach der Entbindung wird nochmals ein Zuckertest gemacht – dieser sollte jährlich wiederholt werden. Über die Jahre werden diese Kontrollen leider oft ausgeschlichen. Niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten kommt die wichtige Funktion zu, an diese – von der Krankenkasse bezahlte – Nachsorge zu erinnern.

Typ-1-Diabetes ist nicht heilbar. Wird sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern?

Wie der Typ-2-Diabetes lässt er sich gut in den Griff bekommen. Man muss in erster Linie schauen, dass er ideal mit Pumpen und Sensoren kontrolliert wird, die nahezu automatisch auf den Blutzucker reagieren. Hier wird uns die KI in den kommenden Jahren bei der Automatisierung stark weiterhelfen. Es gibt auch vermehrt Daten, dass man im Frühstadium durch Immuntherapien den Verlauf günstig beeinflussen kann. Möglicherweise wird es irgendwann auch gelingen, die körpereigene Insulinproduktion mit Gentherapien oder neuen Technologien wieder anzukurbeln. Da bin ich optimistisch. 

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