Sportwissenschafter: 10.000 Schritte am Tag sind nicht mehr das Ziel

Sportwissenschafter: 10.000 Schritte am Tag sind nicht mehr das Ziel
Wer mit den länger werdenden Tagen wieder aktiv werden will, für den hat der renommierte Experte Ingo Froböse praktische Anregungen – etwa, die Zahl von 10.000 Schritten zu vergessen.

Ingo Froböse, langjähriger Professor an der Sporthochschule Köln, ist der wohl bekannteste Sportwissenschafter Deutschlands. Gemeinsam mit der Chefärztin für Dermatologie und Allergologie in der Asklepios Nordseeklinik Sylt, Hanka Lantzsch, hat der 67-Jährige ein Buch mit dem Titel „Fühl dich wie neugeboren“ (Kneipp Verlag, siehe Textende) geschrieben - mit zahlreichen Anregungen und Tipps für ein gesünderes und erfüllteres Leben.

KURIER: Was kann ich tun, um mich wie neugeboren zu fühlen?

Ingo Froböse: Kurz gesagt: Ich muss an vier Schrauben drehen: Bewegung, Ernährung, Regeneration und als vierter eine positive mentale Einstellung. Wobei sich diese allein schon dadurch einstellt, wenn ich an den ersten drei Bausteinen arbeite.

Sportwissenschafter: 10.000 Schritte am Tag sind nicht mehr das Ziel

Sportwissenschafter Ingo Froböse.

Nach dem Winter starten oder erhöhen viele wieder ihr Bewegungsprogramm und haben dann die Zahl von 10.000 Schritten täglich im Kopf.

10.000 Schritte sind für viele ein unrealistisches und überforderndes Ziel – überhaupt zu Beginn eines Trainings. Die Zahl geht auf eine Werbung für einen Schrittzähler zurück, den eine japanische Firma 1964 anlässlich der Olympischen Sommerspiele in Tokio auf den Markt brachte. Wissenschaftlich ist sie nicht haltbar. Mein Ansatz für alle, die sich mehr bewegen wollen, ist: Ermitteln Sie an einem ganz normalen Tag ihre bisherige tägliche Schrittezahl. Und dann versuchen sie, diese um 3.000 Schritte zu steigern. Für 1.000 Schritte im Gehtempo benötigt man circa zehn Minuten, für 3.000 am Tag circa 30 Minuten – damit hat man schon einen positiven Effekt auf den Cholesterinspiegel. Mindestens 150 Minuten Ausdauertraining die Woche sind der Reiz, den der Körper braucht, um gesundheitlich stabil zu bleiben.

Reicht spazierengehen?

Also jeder Schritt ist besser, als zu sitzen. Aber es sollte schon ein zügiges Gehen mit etwas beschleunigter Atmung sein, um einen Trainingseffekt zu haben. Eine Faustregel lautet: Auf vier Schritte einatmen und anschließend auf weitere vier Schritte ausatmen ist für die meisten die richtige Geschwindigkeit. Besser Trainierte können es auf einem Teil der Strecke – etwa bei einer Steigung – mit Einatmen und Ausatmen auf je drei Schritten probieren. Aber für die meisten ist das über einen Zeitraum von 30 Minuten zu anstrengend.

Sie warnen vor den viel zu wenig beachteten Risiken des Muskelabbaus?

Der Abbau der Muskelmasse wird völlig unterschätzt, er wird kaum diagnostiziert und findet sich in fast keinem Behandlungskonzept. Ab dem 30. Lebensjahr geht die Muskelmasse etwas zurück, ab dem 40. Lebensjahr dann deutlich – im Schnitt um ein Prozent pro Jahr. Idealerweise beträgt der Anteil der Muskelmasse am Körpergewicht beim Mann 40 Prozent, bei der Frau 30 Prozent. Sind es aber beim Mann weniger als 30 und bei der Frau weniger als 20 Prozent – und das ist ohne Training um das 50. Lebensjahr der Fall – wird es kritisch, weil dann in Relation die Fettmasse zu groß wird. Die Muskeln sind das größte Stoffwechselorgan. Verliert man zu viel davon, haben die Adipokine, Entzündungsbotenstoffe aus dem Fettgewebe, keinen Gegenpart mehr: Es kommt zu schleichenden Entzündungen, hormonellen Veränderungen und die Gefahr für Adipositas und Diabetes steigt.

Wie kann man den Abbau erkennen?

Optisch oder auf der Waage merkt man die Abnahme der Muskelmasse nicht, weil ja die Fettmasse zunimmt. Ich rate dringend zu einer Bioimpedanzanalyse zur Messung der Körperzusammensetzung. Dabei wird elektrischer Niederspannungsstrom durch den Körper geleitet und der Widerstand gemessen. Eine Möglichkeit ist auch eine Handkraftmessung mit einem Handkraftnanometer. Denn das Gefährliche ist: Die meisten Menschen mit zu wenig Muskelmasse sind metabolisch ungesund – auch wenn Blutzucker und Blutfette noch im Normalbereich liegen. Die Mitochondrien, die Energielieferanten der Zellen, gehen kaputt, die Menschen fühlen sich träge, müde, abgeschlagen. Deshalb sollte man Muskelmasse und Muskelkraft testen, bevor das metabolische Syndrom mit den klassischen Zucker- und Fettstoffwechselstörungen eintritt.

Sie selbst waren ein erfolgreicher Leichtathlet, ihre Bestzeit auf 100 Meter waren 10,40 Sekunden. Wie halten Sie sich fit?

Ich mache jeden Tag eine kleine Ausdauereinheit von mindestens 45 bis 60 Minuten. Aber ich übertreibe es nie, gerade im Ausdauerbereich ist mein Grundprinzip die subjektive Unterforderung. Deshalb würde ich niemals einen Marathon laufen, weil es mir um positive Gefühle und Erlebnisse geht. Drei Mal in der Woche mache ich ein spezielles Muskeltraining. Denn je älter ich werde, umso wichtiger wird meine Muskulatur, um meine Lebensqualität zu erhalten.

Und wie ernähren Sie sich?

Am Morgen kohlenhydratereich – immer Müsli mit vielen verschiedenen Kernen, aber auch Brot. Zu Mittag vitalstoffreich – etwa viel gedünstetes, saisonales und buntes Gemüse mit etwas Kohlenhydraten oder Proteinen: Und am Abend sehr eiweißreich, pflanzlich und tierisch, Linsen oder Soja ebenso wie Fisch, Fleisch. So gebe ich dem Körper untertags die Energie für die Autobahn des Lebens und am Abend gebe ich ihm mit den Proteinen den Baustoff – das ist eine biorhythmische Ernährung. Mindestens einmal in der Woche betreibe ich Intervallfasten und lasse Mittag- oder Abendessen ausfallen.

Sie betonen auch immer die Bedeutung von biorhythmischem Trinken?

Nach dem Aufwachen steigen wir mit einem großen Flüssigkeitsdefizit in den Tag ein. Deshalb rate ich dazu, 60 Prozent des gesamten Flüssigkeitsbedarfs am Vormittag zu trinken, und in der zweiten Tageshälfte dann nur 30 bis 40 Prozent.

Bleibt noch die von ihnen erwähnte dritte Hauptkomponente, die Regeneration.

Damit meine ich nicht nur die Erholung unmittelbar nach einer Trainingseinheit, sondern ganz generell den Einbau von Pausen und sogenannten „Ich-Zeiten“ in den Alltag. Ich persönlich versuche, regelmäßig und viel zu schlafen – neun Stunden sind es bei mir, die ich brauche, um vitalisiert und gut gelaunt aufzuwachen. Ich bin sehr neugierig, versuche immer Neues zu lernen und bin so insgesamt ein optimistischer und glücklicher Mensch.

Buchtipp: 

Hanka Lantzsch, Ingo Froböse; "Fühl dich wie neugeboren! 52 Mini-Kuren für mehr Bewegung,  einen besseren Stoffwechsel und ein aktiveres Immunsystem". 

Kneipp Verlag Wien, 192 Seiten, 25 Euro

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