Die Bezeichnung „Grenzgänger“ für einen ganz bestimmten Schlag von Menschen wanderte aus der Persönlichkeitspsychologie schnell in die Unterhaltung und nicht zuletzt in die Umgangssprache. Warum? Weil der menschliche Körper allgemein dazu prädestiniert ist, seine Grenzen nicht nur auszuloten, sondern zu überschreiten und in Lichtgeschwindigkeit hinter sich zu lassen.
So wie Eliud Kipchoge im Oktober 2018, als er beim Berlin Marathon an den Start ging. Ab Kilometer 17 rannte er alleine. Nach weiteren 25,195 Kilometern wusste die Welt: Mit einer Dauer von 2:01:39 wurde er zum schnellsten Marathon-Läufer aller Zeiten. „Vor Kurzem haben Biologen noch postuliert, dass der Mensch die 100 Meter nie unter 9,7 Sekunden laufen wird können.
Sprinter Usain Bolt hat mit 9,56 Sekunden das Gegenteil bewiesen“, erzählt der Sportmediziner Christian Gäbler vom Sportambulatorium Wien. Und der Medical Director des Vienna City Marathon sagt: „Es kann jeden Moment ein Ausnahmetalent auftauchen, das noch begnadeter ist als Bolt. Das kann spielerisch aussehen und keiner hätte es gedacht. Oder das passiert erst in 20 Jahren.“
Süchtig nach der Grenzerfahrung
Ohne feste Nahrung schafft es der Körper 60 Tage lang am Leben zu bleiben. Gibt man ihm keine Flüssigkeit, kann der Mensch nach 100 Stunden sterben: „Bei Hitze etwas weniger, in kühlen Temperaturen vielleicht etwas länger“, so Gäbler. Manche Menschen sticht eine Biene und sie sterben. Den nächsten trifft der Blitz und er wird trotzdem 90 Jahre alt. „Ein direkter Blitzschlag ist meistens durch sofortigen Herzstillstand tödlich. Wenn der Mensch jedoch nicht direkt getroffen oder der Blitz über die Körperoberfläche abgeleitet wird, hat er gute Chancen zu überleben.“
Es sind diese Extreme, die den Menschen faszinieren: „Seine eigenen Grenzen zu überschreiten ist im Prinzip ja die Spannung im Leben. Und: Grenzgehen hat einen gewissen Suchtfaktor“, weiß Gäbler.
Es kann jeden Moment ein Ausnahmetalent auftauchen, das noch begnadeter ist als Usain Bolt.
von Ao. Univ.-Prof. Dr. Christian Gäbler
Facharzt für Unfallchirurgie und Sporttraumatologie
Vorbild Fisch: Wasser
Eine solche Grenzerfahrung hatte auch Ross Edgley im November 2018 vor Augen, als er in seinen Neoprenanzug schlüpfte und in 157 Tagen um Großbritannien schwamm. 37 Begegnungen mit Quallen und eine sich vor Salzwasser auflösende Zunge später folgte der Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde. Sein dritter. Auch eine logistische Meisterleistung, denn „in fünf Grad kaltem Wasser überlebt der Mensch maximal eine Stunde“, erklärt Gäbler: „In 25 Grad warmem Wasser hingegen kann er bis zu drei Tage überleben. Da ist dann eher das Problem das Salzwasser, das einen verdursten lässt.“
Keine 3.000-Kilometer-Runde, aber dafür einen Tauchgang in die Tiefe setzte sich der Österreicher Herbert Nitsch zum Ziel. Der „Deepest Man on Earth“ hat 2007 den Rekord im Apnoetauchen, also ohne Geräte, aber mit einem Schlitten, der ihn 214 Meter in die Tiefe zog, aufgestellt. 2013 wollt er seinen eigenen Rekord brechen: Er kam auch vor Santorini auf 253 Meter Tiefe, erlitt dabei aber mehrere Hirnschläge und musste sich ein Jahr davon erholen.
Ein Freitaucher-Kollege ist der Schweizer Peter Colat, der seit 2011 den Rekord im Luftanhalten hält. Mit 21 Minuten und 33 Sekunden. „Das ist vor allem eine Frage des Trainings“, weiß Gäbler: „Nicht-Trainierte schaffen es meist nicht länger als 30 bis 45 Sekunden die Luft anzuhalten. Nach zwei Minuten wird man ohnmächtig, nach fünf Minuten ist das Gehirn irreversibel geschädigt.“
Mengenverhältnisse des Körpers
Nicht nur das Wasser um den menschlichen Körper herum, sondern auch die Flüssigkeiten in ihm drin sind rekordverdächtig. Beispielsweise kann unsere Blase nicht „platzen“, weil sie sich auf über einen Liter Fassungsvermögen ausdehnen kann, erläutert der Sportmediziner: „Ab circa 250 Milliliter Flüssigkeit hat man schon Harndrang, 500 Milliliter hält man schmerzbedingt schon nicht mehr aus.“ Abgesehen von den zwei Litern Wasser, die der Mensch am besten täglich zu sich nimmt, liegt hier die Messlatte beim anderen Extrem bei mehr als zehn Litern, die der Mensch trinken kann: „Das hängt natürlich davon davon ab, wie groß und schwer man ist und vor allem wie schnell man das Wasser trinkt“, erläutert Gäbler: „Wenn man allerdings in sehr kurzer Zeit fünf Liter Wasser trinkt, kann man durch die Elektrolytverschiebungen sterben.“ Hingegen der Zirkulation der fünf bis sechs Liter Blut in unserem System – die Menge kann je nach Größe und Geschlecht mehr oder weniger sein – verdankt der Mensch, dass er überhaupt atmen, sich bewegen, leben kann. „Verlieren wir 40 Prozent unserer Blutmenge, dann sterben wir“, erklärt Gäbler.
Mentaler Marathon: Schmerz
Viel seines eigenen Blutes floss 2003 bei Bergsteiger Aron Ralston an ihm hinunter. Der US-amerikanische Extremsportler hatte es sich zum Ziel gesetzt, alle Viertausender in Colorado im Alleingang zu besteigen. Nach einem Unfall bei einer dieser Wanderungen klemmte er sich den Arm zwischen einem Felsen und einer Felswand (siehe Foto S. 17) ein. Fünf Tage lang versuchte er sich – am Ende völlig ausgehungert und ausgedörrt – zu befreien. Der nackte Überlebenswille schließlich ließ ihm das Unmögliche gelingen: Er brach sich Elle und Speiche und durchtrennte Haut und Blutgefäße mit einem Taschenmesser. 13 Kilometer wanderte er vom Unfallort entfernt, bis ihn Wanderer fanden und retteten. Gäbler bestätigt: „Schmerztechnisch gibt es für den Menschen keine Grenze, den kann er unendlich ertragen.“ Auf der Skala der Schmerzen ist der schlimmste laut dem Experten „der Nervenschmerz, auch Neuralgie genannt wie zum Beispiel die Trigeminusneuralgie oder die Nervenschmerzen, die im Rahmen der Gürtelrose auftreten können.“
In dieser Felsspalte klemmte sich Extrembergsteiger Aron Ralston seinen Arm ein. Ihm blieb nichts anders übrig als ihn selber mit einem Taschenmesser zu amputieren
Zehn Monate nach seiner Amputation ließ sich Ralston einen Eispickel an seine Armprothese montieren und kletterte schon wieder er auf den nächsten Viertausender
Genetik: Höhe
Warum aber braucht ein Mensch auf 3.000 Metern schon Sauerstoff, während Höhenbergsteiger Reinhold Messner oder Gerlinde Kaltenbrunner dabei nur mit der Schulter zucken? Das sei laut Gäbler rein auf genetische Vorteile zurückzuführen: „Auch die Bergvölker in Nepal, Tibet oder auch der kenianischen Hochebene können die extreme Höhe durch unterschiedliche Mechanismen kompensieren. Sie sind genetisch adaptiert, haben zum Beispiel mehr rote Blutkörperchen, eine deutlich raschere Ruheatmung oder eine höhere Toleranz gegenüber Sauerstoffmangel im Vergleich zu Flachlandbewohnern.“
Die Rekordjagd geht weiter
Genetik, Training, moderne Technologie. Egal, was ihm dabei helfen kann: Der Mensch wird alles daran setzen, auch künftig einen Rekord nach dem anderen zu übertrumpfen. „Mit der entsprechenden mentalen Stärke kann der Mensch jedem Extrem entgegentreten“, sagt Gäbler. Das Risiko für das eigene Leben bleibt trotzdem existent. Herbert Nitsch tauchte kurz nach seiner Rekonvaleszenz erneut im dreistelligen Bereich. Aron Ralston ließ sich einen Eispickel an seine Armprothese montieren, die ihn zehn Monate nach der Amputation schon wieder auf den nächsten Viertausender brachte.
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