ADHS: Ständig auf Hochtouren

ADHS: Ständig auf Hochtouren
Die Diagnosen nehmen zu – auch bei Erwachsenen. Die Wartelisten bei Psychiatern und Psychologen sind lang, doch nicht jeder der unruhig ist, ist auch wirklich betroffen.

Es ist wie ein Radio, das ständig läuft, das ohne Pause auf allen Kanälen gleichzeitig sendet. Viele Stimmen, Töne, Geräusche, Informationen strömen durchgehend auf einen ein. Eine Kakophonie, die es fast unmöglich macht, sich auf die eine, gerade wichtige Aufgabe zu fokussieren.

Dieses Bild verwenden Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS – oft, um ihre Gefühlslage zu beschreiben, erzählt Dr. Jakob Unterholzner. Der Facharzt für Psychiatrie leitet an der Medizinischen Universität Wien die Spezialambulanz für ADHS. Dort kümmert sich ein Spezialistenteam unter anderem um Menschen, die mit Hyperaktivität, Aufmerksamkeits- und Organisationsdefiziten sowie anderen Symptomen aus diesem Formenkreis zu kämpfen haben.

Landläufig gilt ADHS als etwas, das vor allem im Kinder- und Jugendalter auftritt. Es zählt zu den Neuroentwicklungsstörungen, das heißt, nach derzeitigem Verständnis beginnen die Symptome eben auch im Kindes- und Jugendalter. „In Kindergarten oder Schule fallen Unregelmäßigkeiten mehr auf, etwa, wenn ein Kind ständig zu spät kommt, Dinge vergisst, sich nichts merkt, unruhig oder unaufmerksam ist.“ Und natürlich leben wir alle in einer digitalen Welt – und der sozialen Medien. „Dort wollen alle unsere Aufmerksamkeit.“ Das macht es schwieriger, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Längst gebe es Zahlen, die belegen, dass die Aufmerksamkeitsspanne jeder Generation immer weniger wird. Diese Erfahrungen treten in jedem Alter auf, bei vielen. „Man hat dann selbst auch das Gefühl, dass die Aufmerksamkeit leidet.“

Die Zahlen an ADHS-Diagnosen nehmen jedenfalls zu – auch bei Erwachsenen, wie Unterholzner bestätigt. „Bei uns an der Ambulanz – eine Anlaufstelle für Erwachsene – ist die Anfrage durchgehend hoch, die Warteliste ist lang.“ Eine Art „Modediagnose“ sieht er allerdings nicht – das sei zu kurz gegriffen. „Es ist ja nicht so, dass die Symptome mit 18 Jahren plötzlich aufhören.“ Sie setzen sich auch fort ins Erwachsenenalter. „Die Personen leiden darunter, es bedeutet auch weiterhin eine Einschränkung.“ Das ist für den Experten der wichtigste Punkt in der Diskussion um ADHS, „denn mittlerweile wurde das auch gut erforscht. Man weiß heute, dass die Symptome das ganze Leben da sein können.“

Symptome verändern sich

Aber die Symptome verändern sich im Laufe der Zeit. „In der Kindheit sind die Kernsymptome allerdings am stärksten.“ Als solche gelten Aufmerksamkeits- und Organisationsdefizite sowie Impulsivität und Hyperaktivität. Über die Lebensjahre werden diese zwar weniger. Aber sie können auch weiterhin funktionelle Einschränkungen im Alltag auslösen. „ADHS ist generell mit einer erhöhten Rate an anderen Problemen bzw. Komorbiditäten assoziiert, auch wenn eine Diagnose und Behandlung in der Kindheit und Jugend die Wahrscheinlichkeit reduzieren kann.“ Man spreche von Komorbiditäten – Depressionen, Angststörungen, auch Substanzgebrauchstörungen und soziale Probleme zählen dazu. Ebenso Aspekte, die vielleicht nicht vorrangig mit ADHS verbunden werden. Unterholzner nennt etwa riskantes Verhalten wie Schulden machen, Unfälle verursachen, mit dem Gesetz in Berührung kommen. „Diese können mit dem Erwachsenenalter ebenfalls vorkommen und Symptome sein.“

Krankheit oder Störung? 

Ob man nun von einer Krankheit oder einer Störung spricht, ist für Psychiater Unterholzner nicht der entscheidende Punkt. „Wichtig ist: Die Symptome, die viele Betroffene beschreiben, sind sehr gut erforscht. Und da können wir unterstützen.“ Mitunter zeigen sich die Probleme bei Lebensveränderungen, wenn bisherige Gerüste wegfallen, deutlicher. „Etwa, wenn jemand ein Studium beginnt, aus dem Elternhaus auszieht.“ Nicht den Erfordernissen zu entsprechen, die man auch an sich selbst stellt, kann Menschen mit ADHS-Symptomatik ins Schleudern bringen. Das kann etwa den Selbstwert negativ beeinträchtigen, erläutert Unterholzner. „Wenn man die Erfahrung gemacht hat, ich bin intelligent, aber ich schaffe es nicht, zum Beispiel.“ Habe man dieses Selbstbild und komme in einen Zyklus, kämen Selbstzweifel, Depressionen dazu.

Bezugspersonen werden einbezogen

Eine Diagnose mit ADHS oder einer der Subformen wie dem Aufmerksamkeitsdefizit ADS kann dann durchaus eine Erleichterung bringen. Insgesamt gibt es laut den aktuellen, internationalen psychiatrischen Standards 18 Diagnosekriterien, von denen je nach Kategorie unterschiedlich viele erfüllt sein müssen. „Bei Erwachsenen muss auch die Kindheit und Jugend rekapituliert werden, da bei ADHS der Beginn immer in der Kindheit und Jugend liegen sollte.“ Man binde etwa Bezugspersonen ein oder Zeugnisse, in denen Auffälligkeiten vermerkt wurden. In der Therapie wird an verschiedenen Punkten angesetzt. „Grundsätzlich sollte die Behandlung multimodal und multidisiziplinär erfolgen.“

Eingriff in Gehirnstoffwechsel

Eine Säule kann – muss aber nicht – Medikation sein. „Bei ADHS geht man davon aus, dass es im Gehirn eine Art von Ungleichgewicht gibt, eine Art Reizfilterstörung. Dadurch kann man Reize nicht so gut filtern und die Aufmerksamkeit und Konzentration nicht so halten. Das versucht man auszugleichen.“ Die Medikamente greifen in den Gehirnstoffwechsel ein, auf das Dopamin- und Noradrenalinsystem. „Diese Botenstoffe sind für Motivation, Belohnung, Antrieb, Energie zuständig.“ Es gibt hier verschiedene Medikamentengruppen, die unterschiedliche Wirkungen zu unterschiedlichen Zeiten entfalten.

Das bekannteste Präparat ist Ritalin aus der Gruppe der sogenannten Methylphenidate. Auch Amphetamine werden eingesetzt. Dazu zählt etwa das Präparat Lisdexamfetamin, das auf dieselben Botenstoffe wirkt, allerdings als sogenannte „Prodrug“ gilt. Das heißt, sie wird erst im Körper selbst durch biochemische Abläufe aktiviert. „Tendenziell ist es so, dass sich die Patienten damit ruhiger fühlen“, erklärt Unterholzner den Effekt. „Oft hören wir dann, dass mit der Medikation die vielen sich überlagernden Gedanken weg sind und sich die Patienten besser fokussieren können.“

Letztendlich ist es aber nicht nur die Säule der medikamentösen Therapie, die erfahrungsgemäß zu einem weniger belastenden Alltag führt. „Eine Psychoedukation kann zu Beginn bereits viel helfen. Auch Coachings oder modulare Psychotherapie, wo man sich genau auf jene Aspekte ausrichtet, die im Alltag nicht gut funktionieren“, sagt der Experte. Etwa das Führen eines Kalenders, wenn Organisation und Zeitmanagement im Fokus stehen. „Auf jeden Fall sollte man sich damit auseinandersetzen. Denn trotz einer Diagnose bleibt man ja diese Person und muss sich in ihrem Leben zurechtfinden.“

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