Wenn die Patientin Kopftuch trägt

Medizinische Versorgung ohne Grenzen: Dort, wo Menschen mit Migrationshintergrund eine Herausforderung sind, aber keine Bedrohung
Ein weltweit neuer Lehrgang an der MedUni Wien soll sich um Aufklärung bemühen.
Von Uwe Mauch

Wenn Menschen im Krankenhaus ihren Schmerz lautstark zum Ausdruck bringen. Wenn Großfamilien vollzählig ans Krankenbett ihrer Angehörigen treten. Wenn das Familienoberhaupt der jungen Ärztin zu verstehen gibt, dass er nicht mit ihr, sondern mit einem richtigen Arzt reden will. Wenn sich die Ärztin in ihrer Ehre verletzt fühlt und harsch zurück gibt, dass wir hier nicht in Anatolien oder im 19. Jahrhundert sind. Wenn eine Altenpflegerin aus Indien nicht dienstfrei bekommt, um zum Begräbnis ihres Vaters zu fliegen.

Dann werden nicht nur Heilungsprozesse verzögert, dann wird auch das Klima im Land weiter vergiftet.

Der Vergiftung im Krankenwesen versucht die Medizinanthropologin Christine Binder-Fritz vom Institut für Sozialmedizin der MedUni Wien seit vielen Jahren entgegen zu treten. Das beste Gegengift sei Aufklärung und Information, sagt sie. Dabei ginge es um die Aufklärung der Patienten und um verbesserte Information des medizinischen Personals: "Wenn man zum Beispiel weiß, dass der Schmerz im mediterranen Raum anders ausgelebt wird als in unserem Kulturkreis, kann man leichter damit umgehen."

Schmerzen

Nicht nur die Wahrnehmung von Schmerzen, auch die Anteilnahme der Familie kann, so die Anthropologin, von Herkunftsland zu Herkunftsland abweichen.

Wenn die Patientin Kopftuch trägt
Migration Medizin Lehrgang Türkan Akkaya-Kalayci Christine Binder-Fritz
Gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Psychiaterin Türkan Akkaya-Kalayci, startet Binder-Fritz im Oktober am Wiener AKH einen weltweit neuen Universitätslehrgang, der die Teilnehmer in fünf Semestern so weit bringen soll, dass sie ebenso professionell wie gelassen, ebenso souverän wie wertschätzend Patienten mit Migrationshintergrund behandeln können.

Akkaya-Kalayci leitet seit mehr als zwanzig Jahren die Ambulanz für transkulturelle Psychiatrie und integrationsbedingte Störungen im Kindes- und Jugendalter, die ebenfalls am AKH angesiedelt ist. Sie ist dort – aufgrund der jüngsten geopolitischen Entwicklungen – zunehmend mit den psychischen Problemen von jungen unbegleiteten Flüchtlingen konfrontiert, sie hat aber auch mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu tun, die ihr erzählen, dass ihre Mutter auf offener Straße von fremden Männern geschlagen wurde. "Weil sie ein Kopftuch trug."

Beschämend der Befund der erfahrenen Therapeutin: "Speziell vor Wahlen kommt es immer wieder zu solchen rassistischen Übergriffen."

Die jungen Traumatisierten haben oft massive Probleme, sich beim Lesen, Schreiben, Lernen zu konzentrieren. Darunter leidet zwangsläufig ihr schulischer Erfolg. Akkaya-Kalayci muss oft auch eine Sozialphobie bei ihren Patienten diagnostizieren. "Das Mobbing in den Schulen nimmt weiter zu."

Brisant sind auch die Studien der Anthropologin Binder-Fritz. Sie hat Ärztinnen direkt gefragt, woher ihr Vorbehalt gegen Patientinnen mit Kopftuch kommt. Und hat ehrliche Antworten erhalten: "Das Kopftuch erinnert unsere Frauen schmerzlich an ihren langen Kampf um ihre Gleichberechtigung." Es wirkt wie ein rotes Tuch.

Die beiden Expertinnen haben viel Lob für ihr neues Ausbildungsangebot bekommen. Mediziner und Mitarbeiter im Pflegedienst aus Österreich, Deutschland und der Schweiz haben bekundet, dass diese kompakte Zusatzausbildung mehr als dringend benötigt wird.

Bis dato gingen unzählige Anfragen ein, aber nur 15 fixe Anmeldungen (es gibt noch einige Restplätze, siehe links). Die Zurückhaltung hat in erster Linie mit den Kosten zu tun. Die müssen die Teilnehmer bis auf Weiteres selbst bezahlen. Sie werden für die Zeit ihrer Ausbildung – trotz vieler Lippenbekenntnisse – auch nicht von ihren Dienstgebern freigestellt.

Der neue Lehrgang

Der universitäre Lehrgang „Transkulturelle Medizin und Diversity Care“ wird an der MedUni Wien abgehalten. Er soll praxisnahes Hintergrundwissen vermitteln. Dabei geht es unter anderem um den Einfluss von soziokulturellen Prägungen auf das Gesundheits- und Krankheits- verhalten, migrationsbedingte psychosoziale Belastungen und spezifische Probleme, die Migranten in ihrem Alltag und auch im Umgang mit dem Gesundheitssystem erleben.

Die Ausbildung startet im Oktober 2015 und dauert fünf Semester. Sie kostet 12.500 €. Nähere Infos und Anmeldung: www.meduniwien.ac.at/hp/ulg-
transkulturelle-medizin

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