Der Neandertaler war nicht rabiater als der moderne Mensch
Stumpfsinnige und Keulen schwingende Urmenschen, die brutal aufeinander eindreschen: Dieses Bild haben viele im Kopf, wenn sie an den Neandertaler denken. Doch je mehr Wissenschaftler über ihn wissen, desto klarer wird, dass dieses Bild revidiert werden muss. Beispiel: Neandertaler wurden nicht häufiger am Kopf verletzt als der moderne Mensch.
Herausgefunden hat das jetzt ein Forscherteam rund um Katerina Harvati von der Universität Tübingen (D), die den Datenbestand von mehreren Hundert Fossilien statistisch ausgewertet hat. Die Experten wollten Antworten auf diese Fragen: Wie alt waren die Menschen, als sie verletzt wurden? War deren Anteil beim Homo sapiens und beim Neandertaler gleich hoch? Und gibt es einen Unterschied zwischen den Geschlechtern?
Männer und Frauen
Wenig überrascht hat die Forscher, dass Frauen prinzipiell weniger häufig verletzt wurden als Männer. „Ein solches Muster kennen wir bereits von Menschen, die später gelebt haben“, weiß Katarina Harvati. Sie hat hierfür auch eine mögliche Erklärung parat: „Das kann mit der Arbeitsteilung zusammen hängen – Männer gingen häufiger auf die Jagd. Oder sie mussten sich schlicht und einfach risikofreudiger verhalten, weil das Teil der Kultur war.“
Erstaunlich war für Harvati die Tatsache, dass Schädelverletzungen bei beiden Menschenarten gleich häufig vorkamen. Für die Paläoanthropologin lässt das nur einen Schluss zu: „Wir müssen unsere Vorstellung überdenken, dass Neandertaler gewalttätiger waren oder gefährlichere Jagdmethoden nutzten.“ Ihre Studie wurde im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlicht.
Einzelfälle
Bisher hatten Forscher angenommen, dass das Sozialverhalten der Neandertaler gewaltgeprägter und ihr Jagdverhalten riskanter war – sie benutzten etwa Stoßspeere, mit denen sie ihrer Beute gefährlich nahe kamen. Doch diese Schlüsse wurden gezogen, weil sich Forscher nur Einzelfälle anschauten, und nicht Hunderte Fälle verglichen haben.
Als sie verletzt wurden, waren Neandertaler jünger
Bei allen Gemeinsamkeiten: Einen Unterschied gibt es: „Die Neandertaler, die am Kopf verletzt wurden, waren im Schnitt jünger als der Homo sapiens.“ Junge Menschen sind für die Forscher solche, die zwischen zwölf und 30 Jahre alt sind.
Doch warum war das so? Auch da können die Forscher bis jetzt nur spekulieren: „Entweder ihre Umgebung war gefährlicher. Oder die Wahrscheinlichkeit war geringer, dass sie eine solche Verletzung überlebten“, meint die Forscherin. Denn nicht immer war eine solche Verwundung tödlich. Im Irak fanden Forscher z. B. die Knochen eines Neandertalers mit mehreren Brüchen, einem eingedrückten Schädel und einem amputieren Arm – der Mann wurde von seiner Sippe wohl jahrelang gepflegt.
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