Demenz als Flucht vor uns selbst

Demenz als Flucht vor uns selbst
Ein 36-jähriges Ex-Model mahnt die Gesellschaft: Das Demenz-Problem zeige, dass bei uns etwas falschläuft.

Sophie Rosentreter hat die Zukunft unserer Gesellschaft erlebt. Neun Jahre lang war sie an der Seite ihrer demenzkranken Großmutter Ilse und lernte die Ängste, Bedürfnisse und den Verlauf einer Krankheit kennen, die als große Herausforderung unserer Zeit gilt. Diese Jahre haben sie verändert, das frühere Model beschäftigt sich heute auf vielen Ebenen mit Demenz. Und mit den Irrwegen der Gesellschaft in diesem Zusammenhang. Ihr neues Buch beeindruckt durch Sätze wie: "Es kommt nicht darauf an, was man erreicht, sondern wen."

Der KURIER bat Rosentreter zur Buchbesprechung und hörte dabei ihre Überzeugung. Demenz sei nur ein Symptom: "Wir müssen uns als Gesellschaft verändern. Ich erkenne schon jetzt eine Sinnsuche. Junge, die sich in der Pflege engagieren wollen. Mediziner, die Probleme ganzheitlicher betrachten. Es tut sich etwas."

KURIER: Frau Rosentreter, kommentieren Sie bitte einige Stellen des Buches. Zum Beispiel: "Zunehmende Einsamkeit, Hektik, Innovationsbesessenheit, zunehmender Konkurrenzdruck. Wir alle können das kaum noch ertragen. Menschen mit Demenz machen uns deutlich, wie unbewohnbar unsere Gesellschaft zu werden droht."

Sophie Rosentreter: Letztens sagte ein Hirnforscher: Jede Gesellschaft bekommt die Krankheit, die sie verdient. Wir hetzen lebenslang unserem Ego hinterher und versuchen es herauszukehren. Gegen Lebensende wird es uns dann genommen. In Afrika ist es anders, da sind die alten Menschen die Weisen, die ihre Erfahrungen weitergeben. Die Forschung kennt in Afrika keine Demenz.

Nun verursacht Einsamkeit im Gehirn messbare Schmerzen. Menschen mit Demenz werden – aus Unwissenheit – ausgegrenzt und vereinsamen. Sie empfinden echten Schmerz und werden mit Medikamenten zugedröhnt, weil die Ärzte keine Ursache finden. Insofern ist Demenz ein Wachrütteln unserer Gesellschaft, was wirklich zählt.

Dazu eine andere Stelle: "Wir sprechen von ‚jungen Alten" oder ‚best agern", und die haben gefälligst ein permanentes Anti-Aging-Programm zu absolvieren: sportlich aktiv, immer auf Achse, unternehmungslustig."

Da fragt man sich doch: Wer ist hier eigentlich krank? Und was macht glücklich? Die Jungen botoxen und hecheln dem Schein hinterher. Darin liegt eine unglaubliche Leere. Deswegen habe ich übrigens mit dem Model-Beruf aufgehört. Heute habe ich meine Berufung gefunden. Manche Studien sagen, Helfen verlängere das Leben.

"Neun Jahre haben wir meine Großmutter durch diese Krankheit begleitet. In dieser Zeit hat sich Ilse immer weiter von dem entfernt, was wir ‚Normalität" nennen. Aber mir kam sie immer näher. "

Als ich sie mit Worten nicht mehr erreichte, kam ich ihr auf der Gefühlsebene näher. Dadurch fing ich plötzlich an zu entschleunigen. Du fühlst dich besser, wenn du andere besser fühlst. Darin sehe ich die große Chance. Man sagt auch, Menschen mit Demenz sind wie Kinder. Die Gefahr ist, sie wie Kinder zu behandeln. Aber die Bedeutung der Gefühlsebene wird wieder wichtig.

Daher sollte man sich Gedanken darüber machen, wie man als Pflegefall aufgehoben sein möchte. Da gibt es die Patientenverfügung für das Administrative. Aber auch, was mich als Mensch ausmacht: Die Musik, die ich gerne höre, die Begegnungen, die Märchen, Gedichte, die mir wichtig sind. Das sollten die Menschen wissen, die mich später pflegen.

"Die seelische Gesundheit eines alten Menschen scheint bei der Entwicklung einer Demenz eine Schlüsselrolle zu spielen."

Das ist wenig erforschtes Terrain. Manche Forscher sagen: Je glücklicher man war und je mehr man sich angeeignet hat – intellektuell und emotional – umso länger ist der Weg zur Demenz. Wer auf wenig zurückgreifen kann, kommt schneller in die Demenz. Ich glaube, das stimmt.

"Vielleicht sollten wir die weltweite rapide Zunahme an Demenzerkrankungen unter anderem auch als gesellschaftliches Phänomen betrachten? Und Demenz möglicherweise als eine regelrechte Flucht ins Vergessen?"

Egal, ob wir Demenz als Krankheit oder Alterserscheinung sehen: Was ist die Lösung? Die liegt nicht in der Medikation, sondern in den Beziehungen. Ich beschreibe im Buch den Fall einer Frau, die bis zu ihrem Tod mit 105 Jahren keine Anzeichen von Demenz zeigte. Bei der Untersuchung ihres Hirnes wurden allerdings die Ablagerungen einer schweren Demenz gefunden. Ihr Umfeld hat gepasst und so konnte sie normal leben.

Wie schwierig das ist, sagen Sie so: "Wie soll das gut gehen, wenn man Verantwortung für jemanden übernehmen muss, der doch ein Leben lang für sich und andere Verantwortung getragen hat?"

Es geht nur mit Hilfe, mit Wissen, mit Zusammenarbeit. Natürlich ist es grausam, wenn die Mutter zum Kind wird und nicht einmal Danke für das tägliche Wickeln sagt. Wichtig ist: Nicht jeder kann und muss die Pflege leisten. Der Gedanke ‚Die Familie muss es schaffen" ist Blödsinn. Wir als Gesellschaft müssen das auffangen. Und es gibt schon jetzt gute Lösungen.

Man muss das gesamtheitlich sehen. Pflege hat das Problem, dass die Arbeit nicht geschätzt wird. Wir schaffen es nicht einmal, Glück darin zu sehen, dass es diese Menschen gibt. Da hilft auch Wohlstand nicht. Werte können wir uns mit Geld nicht kaufen.

Prognose: Starke Zunahme bis 2050

Bis 2030 wird sich die Zahl der weltweit von Alzheimer und anderen Demenz-Erkrankungen betroffenen Menschen auf 66 Millionen beinahe verdoppeln, warnte vor kurzem die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ursache ist das steigende Lebensalter. Bis 2050 müsse damit gerechnet werden, dass rund 115 Millionen Menschen an einer Demenz erkrankt sind. Das wären mehr als drei Mal so viele wie heute. 58 Prozent der heutigen Demenz-Patienten leben in Ländern mit nur "geringen bis mittleren Einkommen" und werden nur vergleichsweise schlecht versorgt, so die WHO.

Österreich  Experten gehen davon aus, dass bis 2050 mit mehr als einer Verdoppelung der Fallzahlen von derzeit 120.000 auf 269.000 demenzkranke Menschen zu rechnen ist.

"Wir müssen unsere Möglichkeiten verbessern, Demenz frühzeitig zu erkennen und die notwendige medizinische und soziale Fürsorge zu gewähren", sagt der stellvertretende WHO-Generaldirektor Oleg Chestnov. Selbst in reichen Ländern werde Demenz in bis zur Hälfte aller Fälle erst viel später erkannt, als dies heute schon möglich wäre.

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