Buch von Bernhard Salomon: Rohkost-Trend - gesund oder gefährlich?
Lokale ohne Herd bieten doch gesundes Essen. Buchregale füllen sich mit Titeln wie "Rohköstlich". Supermärkte verkaufen mehr und mehr Produkte, in denen etwas bewusst fehlt. Wenn auch noch ein frecher Rocker wie Heiner Lauterbach eine App namens "Smoothie for fit" präsentiert, dann nimmt die "Rohvolution" Gestalt an.
Dabei ist der Rohkost-Trend im kollektiven Ernährungsbewusstsein nur der logische nächste Schritt nach der vegetarischen und veganen Welle. Auch diesmal sprechen die Anhänger von der wahrhaft gesunden Ernährung, dem Kampf gegen Zivilisationskrankheiten wie Mattheit und Übergewicht. Die Rohköstler erhitzen Lebensmittel nicht über 42 Grad, weil sonst einige Vitamine und Enzyme zerstört würden. Obwohl Rohkost tierische Produkte nicht ausschließt, schränken sich die meisten auf vegane Rohkost ein, also rohes Obst und (Blatt-)Gemüse, dazu Samen, Sprossen und Nüsse. Geschnitten, gemixt, püriert, höchstens gedörrt.
Zum Ernährungstrend wurde die Rohkost erst in den USA stilisiert. Dort gibt es mittlerweile alles, was so ein Trend braucht: Prominente Anhänger – Sänger Jason Mraz, Designerin Donna Karan und sogar Ex-007 Pierce Brosnan. Eine schicke Restaurantszene – Los Angeles hat sich zum Nabel der Raw- Food-Welt entwickelt. Und Pioniere mit Kochshows und Büchern – allen voran "Sexiest Vegetarian" Mimi Kirk, eine 76-Jährige, die lange wie 50 aussah und das der veganen Rohkost zuschrieb.
Hitzige Diskussion
Die nötige Objektivität ist in Ernährungsdiskussionen abhanden gekommen. Weil man fast jede Ansicht mittlerweile mit einer Studie untermauern kann. Weil die Erkenntnisse sich ständig überleben, siehe Milch: gesund, ungesund, ganz ungesund, super. Weil Ärzte im Studium nur ein paar Stunden Ernährung lernen, aber dozieren sollen. Und weil viele, die eine neue Ernährung begeistert, sie zum Lösungsdogma erklären. Im Interview Martina gegen Bernhard Salomon zeigt sich, wie deutlich die Front sein kann. (Ein Video des Gesprächs finden Sie ganz unten)
KURIER: Frau Salomon, wieso halten Sie Ihren Bruder denn für einen Spinner, wenn er sich ein Jahr von rohem Obst und Gemüse ernährt?
Martina Salomon: Spinner ist schon sehr hart. Aber wir streiten heftig übers Essen und versuchen uns sehr oft gegenseitig zu überzeugen. Ich bin ein Gegner von Gesundheitsmissionaren und finde diese neue Askese äußerst seltsam.
Bernhard Salomon: Ich bin kein Gesundheitsmissionar. Ich habe das vor einem Jahr ganz pragmatisch gesehen: Du wirst fitter, gesünder, schlanker, hast ein besseres Körpergefühl und bist klarer im Kopf. Wenn ich das alles durch Ernährungsumstellung schaffe, ist das doch toll. Ich sage ja nicht, dass alle Menschen nur noch Obst und Gemüse essen sollten. Ich bin aber der Meinung, dass man das, was meine Schwester als "normale Ernährung" bezeichnet, sehr ausführlich hinterfragen sollte.
Aber asketisch darf man Sie nennen?
Bernhard Salomon: Das ist ein großer Irrtum. Ich lebe weniger asketisch als die meisten, die versuchen, sich zu kasteien, weniger zu essen. Ich esse so viel ich will von dem, was mir am besten schmeckt, und die ganze Zeit mit dem Gefühl, das tut mir richtig gut. Das kann kaum jemand von sich behaupten.
Martina Salomon: Willst du wirklich bis zum Lebensende wie ein Hase Obst und Gemüse essen? Als Selbstversuch habe ich das interessant gefunden. Aber weitermachen, das verstehe ich nicht.
Bernhard Salomon: Es geht mir super, ich fühle mich total gesund, dieses Gefühl will ich nicht mehr aufgeben. Mir schmeckt das so, ich habe keine Lust, etwas anderes zu essen. Warum soll ich? Mein Grundproblem mit deinem Buch ist, dass es die Definition der Normalität für sich beansprucht. Und das Monopol auf Lust erhebt. Ich empfinde aber mehr Freude und Lust als früher. Es ist auch ein großer Irrtum unserer narzisstischen Gesellschaft, dass Lust ein Spaßprinzip ist. Die Evolution hat uns Lust nicht gegeben, um uns vergnügen zu können, sondern als Leitprinzip: Es leitet uns zu dem, was uns guttut.
Martina Salomon: Mir war klar, dass mein Buch etliche Freunde und Menschen mit Essensneurosen vor den Kopf stoßen wird. Ich war fast erschrocken, als ich erfuhr, dass mein Bruder das "Gegenbuch" schreibt.
Ist das neurotisch?
Bernhard Salomon: Mein Experiment war für Europa noch megaradikal. Aber ich hätte gedacht, dass Ärzte und Ernährungswissenschaftler es sich genau anschauen und vielleicht Hinweise für die Forschung ziehen. Ich habe ja jede Veränderung im Körper sehr reflektiert und genau dokumentiert. Stattdessen haben sie nur gesagt, der spinnt. Das war enttäuschend. Da gibt es bedenkliche Wissenslücken bei Ärzten und Wissenschaftlern, auch bei Dingen, die durcherforscht sind. Es ist zum Beispiel definitiv falsch, dass Milch dem Körper Kalzium zuführt. Der Körper verbraucht mehr Kalzium, um die Milch abzubauen, als er von ihr bekommt. Die WHO hat das bestätigt.
Martina Salomon: Das halte ich für totalen Blödsinn. Mediziner sagen das Gegenteil.
Martina Salomon: Kommst du wirklich ohne Zusätze aus? Ich halte das für Mangelernährung. Ich finde dich eh schon zu dünn!
Bernhard Salomon: Die Blutwerte haben sich in dem Jahr sukzessive verbessert, ich habe jetzt die eines Neugeborenen. Nur mein Vitamin- B12-Wert war unten. Das ist ein häufiger Mangel, weil industriell hergestelltes Obst und Gemüse das nicht mehr ausreichend liefern kann.
Dabei schreibt Ihre Schwester: "Das Gerücht, dass der industrielle Ackerbau nährstoffärmere Produkte liefert, ist falsch."
Martina Salomon: Das ist auch eine der vielen Verschwörungstherorien. Es gab keine Zeit in der Geschichte, wo es so vielen Menschen so leicht möglich war, sich gesund zu ernähren. Gott sei Dank haben wir Fortschritt und intensivere Landwirtschaft, sonst würden noch mehr Menschen an Hunger sterben.
Martina Salomon: Das Tolle am Fortschritt ist, dass wir uns die Natur zunutze gemacht haben. Ich verstehe daher nicht, wieso derzeit so viele auf "Steinzeitdiät" schwören, als wären die Menschen damals gesünder gewesen. Die sind mit 20 gestorben wie die Fliegen. Aber ich würde solche Tomaten nicht essen, sie schmecken nach nichts. Wir treffen uns ja in dem Punkt, dass wir mehr überlegen, woher das Essen kommt. Ich schreibe in meinem Buch auch gegen Kampfpreise bei Fleisch und dass wir alle zu viel, zu fett, zu salzig, zu süß essen. Aber mir sind extreme Positionen verdächtig. Man sollte aus Essen nicht eine Riesenphilosophie machen, die Erleuchtung verspricht. Essen ist Ersatzreligion für eine Generation, die nie Hunger leiden musste. Dazu klammert man sich an absurde vorwissenschaftliche Thesen.
Bernhard Salomon: Das stimmt so nicht. Es stellen einfach viele Menschen fest, dass ihnen die "normale" Ernährung oft nicht guttut. Ernährung beeinflusst intensiv Körper und Psyche. Die extremen Denker sind auch Teil einer solchen Entwicklung, die dazu führt, dass die Menschheit schrittweise ihre Ernährung ändert. Ich halte für sehr wichtig, da eine grundsätzliche Änderung anzustreben. Jeden, der das tut, als Neurotiker oder Spinner abzuqualifizieren, finde ich falsch.
Martina Salomon: Ich habe dennoch das Gefühl, die Missionare gehen um, und sie sind Feinde des Genießens. Man sollte nicht die Freude an der Vielfalt verlieren.
Bernhard Salomon: Ich esse mehr als früher, unglaublich vielfältig, führe meinem Körper mehr Nährstoffe zu. Aber ein großer Schritt dorthin ist die Überwindung der Gier. Das Prinzip der Selbstüberwindung, die uns Jahrtausende geprägt hat, ist heute gesellschaftlich geächtet. Dabei tritt man nur gegen sich selbst an. Ich sage ehrlich: Das war ein schrecklicher Kampf, den ich keinem zumuten will. Da muss man durch.
Lehnen die "Normalen" solche Ernährung nicht auch ab, weil sie den Kampf mit dem Schweinehund fürchten?
Martina Salomon: Ich plädiere für Hausverstand und "Zurück zur Essensnormalität": Esse ich zu viel, muss ich am nächsten Tag Bewegung machen oder weniger essen. Die Schere zwischen den essensbetulichen Extremen und jenen, die jeden Schrott in sich hineinstopfen, geht leider immer mehr auf.
Bernhard Salomon: Da stimme ich zu. Der Mist, den die Nahrungsmittelindustrie produziert, ist ein Problem. Und viele spüren, dass sie sich nicht wohlfühlen, dass das nicht richtig ist für sie. Die brauchen neue Angebote.
Martina Salomon: Ich schreibe deswegen im Buch: Vertrauen Sie Ihrer Intuition, übertreiben Sie nichts. Jeder muss seinen Weg finden.
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