Artensterben: "Wir leben auf Kredit"
Kennen Sie Blu? Er spielte 2011 die Hauptrolle im Animationsfilm „Rio“ und ist ein Papagei. Die Geschichte dreht sich um einen in Gefangenschaft lebenden Spix-Aras, der seine Partnerin im letzten, frei lebenden Vogel ihrer beider Art findet. Laut einer Untersuchung ist die Handlung des Films aber ein Jahrzehnt zu spät angesiedelt. Der letzte wilde Spix-Ara dürfte bereits im Jahr 2000 gestorben sein.
Kein Einzelfall: Um die 400 Tier- und Pflanzenarten hat die Welt gestern verloren. Heute werden es noch einmal so viele sein. Seit der sogenannte Weltbiodiversitätsrat Anfang Mai seinen Artenvielfalt-Bericht vorlegt hat, wissen wir: Von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit ist etwa eine Million vom Aussterben bedroht. Seit es Menschen auf der Erde gibt, sind noch nie so viele Tiere und Pflanzen ausgestorben wie jetzt. Und schuld sind wir. Mehr noch: Der Mensch sägt an dem Ast, auf dem er sitzt. „Wir erodieren global die eigentliche Basis unserer Volkswirtschaften, Lebensgrundlagen, Nahrungsmittelsicherheit und Lebensqualität“, meinte der Vorsitzende des Weltbiodiversitätsrates, Robert Watson, bei der Präsentation.
Stichwort: Weltbiodiversitätsrat
145 Autoren aus 50 Ländern unterstützt von 330 weiteren Experten trugen drei Jahre lang vorhandenes Wissen aus etwa 15.000 Studien und anderen Dokumenten zusammen; bewerteten die Veränderungen der vergangenen fünf Jahrzehnte und vermittelten ein umfassendes Bild vom Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Entwicklungen und ihren Auswirkungen auf die Natur. Heraus kam die erste globale Studie seit 14 Jahren, die untersucht, wie es den Tieren und Pflanzen auf der Erde geht und in welchem Zustand sich ihre Lebensräume befinden. Der Weltbiodiversitätsrat IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) wird von 132 Mitgliedsstaaten getragen und ist eine Organisation der Vereinten Nationen.
Vorbild Weltklimarat
Die Sozial- und Politikwissenschafterin Alice Vadrot von der Universität Wien hat begonnen, sich mit dem Thema zu befassen, als der Rat noch gar nicht existierte. „Der Biodiversitätsrat ist mein Forschungsobjekt“, sagt sie. 2012 gegründet, wollte man ein Modell entwickeln, um Artenrückgang wissenschaftlich darzustellen. „Damals hatte die Wissenschaftsgemeinschaft das Gefühl, dass die Politik ihr überhaupt nicht zuhört“, sagt Vadrot. Als Vorbild nahm man sich den Weltklimarat, der bereits 1988 gegründet worden war. „Da gab es Experten, die der Politik das Wissen liefern konnten – auf eine Art, die verstanden wurde. Das hat in der Biodiversität gefehlt.“ Im Interview mit dem KURIER erzählt Vadrot, warum wir uns mit dem Artenschutz so schwer tun und was jetzt geschehen müsste.
KURIER: Frau Vadrot, Sie beschäftigen sich seit Langem mit dem Weltbiodiversitätsrat und dem Artensterben. Welche Probleme sehen Sie?
Alice Vadrot: Im Bericht werden die menschlichen und ökonomischen Aktivitäten hervorgestrichen – die Landnutzung, die die Biodiversität zerstört. Sozialwissenschafter können aufzeigen, wie sich bestimmte Landnutzungsformen gegenüber anderen durchsetzen und auch wie das Verhältnis von Natur und Mensch funktioniert und warum es so schwierig ist, unser Verhalten zu ändern.
Warum?
Weil es mit Werten verbunden ist. Mit Identität. Denken Sie nur ans Auto. Es ist nicht nur ein Transportmittel. Für viele ist es essenzieller Teil des Erwachsenwerdens – gerade am Land. Ein anderes Beispiel: In Cornwall wurde lange Bergbau betrieben und die Bodenressourcen ausgebeutet. Weil der Bergbau dort nicht mehr existiert, haben viele Gesellschaften ihre Kultur verloren. Bis heute hängen Bilder von Minenarbeitern in Pubs. Was ich sagen will: Das Verhältnis von Mensch und Natur hat viel mit Identität zu tun, mit der Art und Weise, wie wir leben. Darum sind die Symbole, die wir bestimmten Dingen zuschreiben, die Werte, extrem wichtig.
Was müsste man also tun?
Das ist eines der zentralen Probleme. Im Grunde können wir die Dinge analysieren, aber letztlich ist die Politik gefragt.
Wenn Sie entscheiden könnten, was müsste passieren?
Wir müssten die gesamte Ökonomien umbauen, Kreiswirtschaft einführen, Ressourcenverwendung neu denken. Das betrifft die Nahrungsmittelproduktion genauso wie die Transportwege, die wir nutzen. Natürlich haben wir als einzelne Menschen Verantwortung, aber wichtig ist auch, dass wir große Unternehmen, die Ressourcen nicht nachhaltig verwenden, zur Rechenschaft ziehen.
Sie denken an Steuern?
Ja, zum Beispiel. Oder Waren, die nicht nachhaltig produziert werden, nicht einzuführen. Oder Zölle zu erheben. Das zeigt auch der Report. Wir müssen die Art und Weise verändern, wie mit Ressourcen und Land umgegangen wird. Es gibt auch eine unglaubliche Diskrepanz zwischen jenen Menschen, die Zeit, Ressourcen und Bildung haben, um solche Themen als relevant wahrzunehmen. Und jenen, die all diese Dinge nicht haben. Das sehen Sie etwa bei der Gelbwestenbewegung, die darauf aufmerksam macht, dass es existenziellere Probleme gibt als Klimawandel und Artensterben.
Was Sie nicht unterschreiben?
Richtig. Weil soziale und ökologische Fragen zusammenhängen. Das ist aber nicht immer offensichtlich. In einem Projekt haben wir Studierende mit Lehrlingen zusammengebracht, um Lösungen für mehr Nachhaltigkeit im Alltag zu entwickeln. Das Projekt ist fast gescheitert.
Warum?
Weil es so weit von der Realität der Lehrlinge weg war. Meine Studierenden haben ein sehr, sehr hohes Problembewusstsein, aber ich denke, dass man alle ins Boot holen muss. Denn da gibt es wahnsinnig viele.
Wie könnte das funktionieren?
Man muss bei den Lebensrealitäten der Menschen ansetzen, denn das Verhältnis zu Natur und Ressourcen ist etwas sehr Lokales und Persönliches. Nehmen Sie das Lehrlingsbeispiel: Die Studenten haben die Lehrlinge gebeten aufzuzeigen, welchen Weg sie in die Arbeit nehmen und dann besprochen, welche anderen – ressourcenschonenden – Möglichkeiten es gäbe. Außerdem ist es wichtig, Druck aufzubauen. Denken Sie nur an die „Fridays for Future“-Bewegung: Der Protest auf der Straße birgt die Chance, das Problembewusstsein zu schärfen, dass es um Lebensgrundlagen geht. Das ist vielen nicht bewusst, weil es entkoppelt scheint. Wir gehen in den Supermarkt und kaufen schön verpackte Waren. Die Ressourcen dafür kommen aus Gebieten, die deswegen zerstört werden. Vielen ist nicht bewusst, dass wir in einer privilegierten Situation leben. Wir leben auf Kredit.
Was würde schnell helfen?
Kein Plastik mehr verwenden. Auch die Versiegelung von Land ist ein Riesenproblem. Das müsste gestoppt werden. Oder die Container-Schiffe, die ewig lange am Meer verweilen und warten, bis eine Ware besser verkäuflich ist ... Es gibt so viele Beispiele, wo wir Ressourcen massiv verschwenden. Das könnte man auch mit besserer Handelspolitik lösen.
Darum redet man auch nicht mehr ausschließlich vom Artensterben, sondern bringt es einerseits mit verschiedenen menschlichen Aktivitäten in Verbindung und andererseits mit der Ökonomie. Die Gründung des Weltbiodiversitätsrats 2012 war erfolgreich, weil er die Monetarisierung der Biodiversität in Aussicht gestellt hat.
Man versuchte also, der Natur ein Preisschild umzuhängen?
Genau. Der Fokus auf den ökonomischen Wert der Natur verspricht die Kosten, die mit der Zerstörung von Ökosystemen einhergehen, besser abzubilden. Das wird in der Wissenschaft auch kritisiert, wurde aber damals ins Zentrum gerückt. Es war letztlich das Argument, das viele Staaten davon überzeugt hat, den Weltbiodiversitätsrat zu gründen. Viele südliche Länder wollten anfangs keinen Biodiversitätsrat, weil sie das Gefühl hatten, dass die westliche Wissenschaft diktiert, wie globale Politik gemacht werden soll. Sie konnten dann aber durchsetzen, dass nicht nur ökonomische Konzepte einfließen, sondern auch das Wissen, das lokale und indigene Gemeinschaften oder Kleinbauern über die Natur haben. Jetzt sprechen alle mit geeinter Stimme.
Kommentare