Wo es überall kracht: Ökonomischer Druck von der Straße
Das Jahr 2019 war gekennzeichnet von Protesten. Nicht nur die Klimaschutzaktionen (Fridays for Future) mobilisierten Millionen Demonstranten. In vielen Staaten gingen die Menschen auf die Straße, um ihrem Zorn über ökonomische und politische Missstände Luft zu machen.
Daran werde sich, speziell in den Schwellenländern, wenig ändern, erwartet Irina Topa-Serry, Ökonomin bei AXA Investment Managers: „Problematisch bleiben auch 2020 die wachsenden sozialen Unruhen, die die politische Stabilität beeinträchtigen. In Chile, Bolivien und Ecuador brechen immer wieder Straßenproteste aus, und auch Argentinien und Venezuela befinden sich weiter in einer schwierigen Lage.“ So unterschiedlich die Anlassfälle sein mögen, einige Gemeinsamkeiten weisen diese Proteste auf.
Lebenskosten
Die Protestbewegungen in Frankreich gingen nahtlos ineinander, bis hin zu jüngsten Streiks gegen Pensionsreformen. Deshalb geriet in Vergessenheit, woran sich die Gelbwesten Ende 2018 entzündet hatten: an Plänen für höhere Treibstoffsteuern. In Ecuador und Iran lieferte ebenfalls die Abschaffung von Spritpreis-Stützungen den Anstoß zu Massenprotesten, die rasch den generellen Unmut kanalisierten. In Chile trieb neben Protesten gegen niedrige Löhne und hohe Gesundheits- und Bildungskosten die Erhöhung der U-Bahn-Ticketpreise die Menschen auf die Barrikaden.
Proteste gegen die Regierung in Santiago de Chile
Proteste gegen die Regierung in Santiago de Chile
Proteste gegen die Regierung in Santiago de Chile
Proteste gegen die Regierung in Santiago de Chile
Proteste gegen die Regierung in Chile
Proteste gegen die Regierung in Chile
Proteste gegen die Regierung in Chile
Proteste gegen die Regierung in Chile
Proteste gegen die Regierung in Chile
Proteste gegen die Regierung in Chile
Proteste gegen die Regierung in Chile
Proteste gegen die Regierung in Chile
Soziale Ungleichheit
Dass Venezuela nicht zur Ruhe kommt, überrascht nicht: Das sozialistisch regierte Land steckt seit Jahren in einer Versorgungskrise, hat die höchste Inflation (laut IWF 200.000 Prozent) und ist durch das Ringen von Nicolás Maduro und Juan Guaidó um die Macht gelähmt. Aus Chile kannte man solche Bilder bisher nicht: Seit 18. Oktober wurden bei gewaltsamen Protesten 23 Menschen getötet und mehr als 2.000 verletzt. Dabei galt Chile als reichstes und stabilstes Land in Südamerika. Ab Mitte der 1970er hatten in den USA ausgebildete Ökonomen („Chicago Boys“) das Land auf radikalliberalen Kurs getrimmt; manchen galt es dank niedriger Staats- und Steuerquote als Vorbild. Eine Kehrseite ist die eklatante soziale Schieflage: Chile weist mit Mexiko die am ungleichsten verteilten Einkommen aller 36 OECD-Staaten auf. In Argentinien verlor der gescheiterte wirtschaftsfreundliche Präsident Macri die Wahl. Dafür kehrte Vorgängerin Cristina Fernández de Kirchner, zum Schrecken vieler Investoren, als Vizepräsidentin zurück. Wie schon 2001 und 2014 ist das Land abermals pleite.
Anti-Regierungsproteste in Beirut (Libanon), Dezember 2019
Anti-Regierungsproteste in Beirut (Libanon), Dezember 2019
Anti-Regierungsproteste in Beirut (Libanon), Dezember 2019
Anti-Regierungsproteste in Beirut (Libanon), Dezember 2019
Anti-Regierungsproteste in Beirut (Libanon), Dezember 2019
Anti-Regierungsproteste in Beirut (Libanon), Dezember 2019
Anti-Regierungsproteste in Beirut (Libanon), Dezember 2019
Korruption
Ob im Libanon, Irak, Ägypten, Thailand oder Bolivien, wo der Vorwurf gefälschter Wahlen und Druck der Militärs zum Sturz und Exil von Langzeit-Präsident Evo Morales führten: Bei vielen Protesten stehen Vorwürfe des Betrugs und der Selbstbedienung der Eliten im Zentrum. In Malta zerbröselt die Regierung von Joseph Muscat als Spätfolge des Attentats auf die Journalistin Daphne Caruana Galizia, wegen vermuteter Mafiakontakte.
Proteste gegen die Regierung in Malta, Dezember 2019
Proteste gegen die Regierung von Premier Joseph Muscat in Malta, Dezember 2019
Proteste gegen die Regierung in Malta, Dezember 2019
Proteste gegen die Regierung in Malta, Dezember 2019
Proteste gegen die Regierung in Malta, Dezember 2019
Proteste gegen die Regierung und Gedenken an Daphne Caruana Galizia in Malta, Anfang Dezember 2019
Gedenken an die im Oktober 2017 ermordete Journalistin Daphne Caruana Galizia, Ende November 2019
Freiheitsrechte
Brutale Reaktionen von Polizei oder Militärs brachten den Demonstrationen weiteren Zulauf. Die Proteste in Hongkong, die sich an einem Auslieferungsgesetz für Dissidenten an China entzündet hatten, wuchsen zu einer Demokratie-Bewegung, die um die bis 2047 garantierten Sonderrechte bangt. In Indonesien bringen Studenten den wiedergewählten Präsidenten Joko Widodo unter Druck, der Freiheitsrechte beschneiden will. Die Chilenen demonstrieren für eine Verfassungsreform, über die nun im April 2020 abgestimmt wird. In Katalonien wurde die Autonomiebewegung durch Gefängnisstrafen für Separatistenführer neu entflammt. Einige Autokraten waren zum Rücktritt gezwungen, wie Omar al-Baschir im Sudan, der greise Machthaber Abdelaziz Bouteflika in Algerien oder Premier Adel Abdel-Mahdi im Irak.
Negativer Ausblick
Und 2020? Von der Konjunktur ist eher wenig Aufwind zu erwarten. Sollten das Wachstum schwächeln und die Arbeitslosigkeit steigen, könnten sich die Proteste intensivieren. Der Ausblick, den die Ratingagentur Moody’s Mitte November für das kommende Jahr anstellte, fiel für die 142 gerateten Staaten in Summe negativ aus: Die geopolitischen Risiken seien gestiegen, viele Entwicklungen sprunghaft und unberechenbar. Und wegen der vielerorts hohen Schulden gebe es wenig Spielraum, um bei allfälligen Krisen gegenzusteuern.
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