In Zukunft wird es einen Kampf um unsere Zeit geben“

Die aktuelle Krise ist nicht spürbar bei der Bevölkerung angekommen, sagt Trendforscher Ulrich Reinhardt.
Trendforscher Ulrich Reinhardt prophezeit eine Renaissance von Familie und Nachbarschaft. Er denkt, dass Technik das Leben nicht revolutioniert, sondern nur optimiert, und setzt auf Krisenfestigkeit.

Ulrich Reinhardt ist Leiter der renommierten Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen und blickt von Berufswegen in die Zukunft. Am Rande eines Vortrags an der Wiener Wirtschaftsuniversität ließ er den KURIER daran teilhaben.

In Zukunft wird es einen Kampf um unsere Zeit geben“
Interview mit Prof. Ulrich Reinhardt, Trendforscher und Wissenschaftlicher Leiter der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen, am 27.11.2013 in Wien.
KURIER: Werden wir auch 2030 in die City fahren, uns bei der Vorzimmerdame anmelden und Sie über die Zukunft befragen?
Ulrich Reinhardt:
Ich glaube schon, dass wir auch 2030 mit allen Sinnen konsumieren wollen, das Einkaufen als Erlebnis mitnehmen und nicht nur zu Hause alles am Rechner erledigen und bestellen werden. Andererseits werden wir 2030 alle Termine online abstimmen und nur kurz reinschneien. Zeit wird noch enger getaktet sein.

Sie sagen zwar, dass die Zukunft sich nicht so sehr von der Gegenwart unterscheiden wird. Trotzdem: Was wird sich ganz gravierend ändern?
Die Familie. Viele Nationen, auch Österreich, sind von Kinderlosigkeit betroffen. Die klassische biologische Familie wird seltener, wir werden mehr Wahlfamilien haben – man wird mit Leuten zusammenleben, mit denen man befreundet ist. Auch Senioren-Wohnungen oder Generationen-Wohnhäuser kommen, weil man den Luxus des familiären Zusammenlebens nicht missen will.

Wird es gröbere Umwälzungen in der Arbeitswelt geben?
Ja. In Zukunft wird die Formel 0,5 x 2 x 3 vorherrschen. Wir brauchen nur mehr die Hälfte der Arbeitnehmer, die verdienen doppelt so viel, müssen aber drei Mal so produktiv sein. Das merkt man schon jetzt: Entlassen wird auf der unteren Ebene, während das mittlere Management aufgebläht wird.

Uns werden die Ruderer ausgehen, die das Boot antreiben?
Ja, wir werden große Teile der Bevölkerung verlieren, und die werden sich nicht auf Dauer damit zufriedengeben, nur vor dem Fernsehgerät zu sitzen. Fakt ist, dass die Schere auseinandergeht: Hier die gut Ausgebildeten, gut Verdienenden, gut Riechenden, dort die anderen. Mir machen übrigens nicht die zehn Prozent am untersten Rand der Gesellschaft Sorgen. Die kann man sich als entwickelte Gemeinschaft leisten. Das Problem ist, dass die Mittelschicht abzurutschen droht. Aber irgendwann wird da politisch gegengesteuert werden. Ich glaube, in 15 bis 20 Jahren werden wir eine Art Einheitseinkommen in vielen europäischen Ländern haben, damit die Basis gesichert ist. Auf lange Sicht wird es auch eine Einheitspension geben: Jeder bekommt die gleiche Summe, unabhängig davon, was er eingezahlt hat. Das wird notwendig, um den sozialen Frieden zu garantieren. Darüber hinaus wird man privat vorsorgen müssen.

Wie wird die abrutschende Mittelschicht leben?
Sie wird in den Städten leben, die Metropolen-Regionen werden boomen. Die Leute werden versuchen, dorthin zu ziehen, weil dort Arbeit und Leben, Kultur und Sport stattfinden. Die Wohneinheiten werden kleiner werden. Positiv ausgedrückt: Die Menschen werden zusammenrücken, ich sehe auch eine Renaissance der Nachbarschaft.

Sie prophezeien aber auch einen Konflikt zwischen Alt und Jung.
Ja, aber weniger auf persönlicher Ebene. Da herrscht großes wechselseitiges Verständnis für die Nöte und Bedürfnisse. Aber es wird eine politische Herausforderung. Die Parteien müssen darauf achten, dass sie sich nicht zu sehr auf die älteren Generationen und die Kinderlosen konzentrieren, weil die die Mehrheit der Wähler stellen.

Sie beobachten auch, dass die Menschen zunehmend wissen wollen, wofür sie leben, nicht nur wovon. Stimmt das für alle Altersgruppen?
Ich bin da hin- und hergerissen. Die mittlere Generation soll in alle Richtungen leisten: Ihre Eltern versorgen, Vollzeit erwerbstätig sein, Kinder bekommen, sich selbst verwirklichen. Man hat ständig das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben. Diese Problematik betrifft zunehmend auch Junge. Die Anforderungen in und neben der Schule sind gestiegen. Wir waren noch die, die gesagt haben, dass wir null Bock haben. Die heutige Generation ist da pragmatisch.

Apropos Junge …
... ja, das ist eine Generation, die Dinge nicht besitzen, sondern benützen möchte. Die wollen kein Auto mehr zum 18. Geburtstag geschenkt bekommen, die wollen nur von A nach B kommen. In Zukunft wird alles, nicht nur das Auto, geteilt. In den USA kann man heute schon die Gucci-Tasche für einen Ballbesuch ausleihen. Das ist eine Chance, nachhaltiger zu agieren.

Die Trendforschung beobachtet auch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise auffallend entspannt. Warum?
Weil es immer Krisen gab : Öl-Krise, Tschernobyl, erster Golfkrieg, 9/11 – praktisch jedes Jahrzehnt hatte seine große Krise. Immer wieder wurde der Untergang des Abendlandes prognostiziert.

Wann gibt es die nächste Krise?
2017, sagen viele Wirtschaftsexperten. Da wird es in China den großen Knall geben. Aber es wird dadurch nichts grundsätzlich verändert, denn die Menschen sind heute deutlich krisenerfahrener. Auch die aktuelle Krise ist nicht spürbar bei der Bevölkerung angekommen. Sie war mehr Thema in den Medien. Ja, es gab in einzelnen Branchen Kurzarbeit, es gab einzelne Leute, die haben ihren Beruf verloren, zwischenzeitlich. Auch die Reiseintensität ist in den vergangenen drei Jahren wieder gestiegen. Die Leute nehmen das in ihrem Alltag anders wahr.

Warum interessieren Sie als Trendforscher sich so wenig für technische Errungenschaften?
Weil sie das Leben nicht revolutionieren, sondern nur optimieren. An den Grundbedürfnissen des modernen Menschen ändern sie nichts.

Wird das Internet überschätzt?
Ich glaube, wir befinden uns da noch in der Testphase. Die Frage ist, wann die wirkliche Innovation kommt. Gut, beruflich können wir auf das Internet heute nicht mehr verzichten, aber privat sind wir nicht wirklich darauf angewiesen. Derzeit nutzt nicht einmal jeder zweite Österreicher das Internet mindestens einmal pro Woche privat. Vor allem dann nicht, wenn wir erwerbstätig sind und Familie haben. Wir haben einfach nicht die Zeit, um die neuen Medien zu nutzen.

Werden Junge bei ihrem Nutzungsverhalten bleiben oder jenes der Eltern übernehmen?
Die ersten Langzeitstudien weisen eindeutig nach: In dem Moment, in dem man in den Erwerbsprozess eintritt, geht die Internet- und Computernutzung zum ersten Mal radikal nach unten. Einen zweiten Knick gibt es, wenn eine Familie gegründet wird. Weil sich dann die Prioritäten des Lebens verschieben. Weil es dann wichtiger ist, gemeinsam zu essen oder mit den Kindern auf den Spielplatz zu gehen, als darüber zu posten. Schön, wenn man alles auf Facebook postet, aber wann soll man noch die Zeit haben, um das alles zu lesen? Zeit wird zur kostbarsten Ressource. Ich würde fast vorhersagen: In Zukunft wird es einen Kampf um unsere Zeit geben. Die Arbeitgeber, die Konsumindustrie, alle werden in diesen Krieg ziehen und um unsere Zeit kämpfen. Denn der Tag wird auch in Zukunft nur 24 Stunden haben.

Herr Professor, haben Sie nicht den besten Job der Welt? Niemand kann Sie zur Rechenschaft ziehen?
Stimmt, doch man kann unsere Prognosen nachlesen.

Ja? Was haben Sie quasi schon immer gewusst?
Dass der Trend zu Luxese kommt, also der Spagat zwischen Luxus und Askese. Unter der Woche wird bei Hofer eingekauft und am Wochenende wird chic essen gegangen. Für 29 Euro geht es mit dem Billigflieger nach London, Paris oder Rom, dort dann Fünf-Sterne-Hotel und ausgiebige Shopping-Tour. Nicht mehr das Leben in der Mitte der Gesellschaft, sondern Opferkäufe hier, um dort richtig Gas geben zu können. Das zeichnet den Konsumenten der Gegenwart aus. Das hat man uns nicht glauben wollen. Mit manchem lagen wir aber auch falsch.

Zum Beispiel?
Ich habe immer gedacht, dass sich das Internet schneller durchsetzt als das Handy. Was ich nicht bedacht habe: Dass das Handy vor allem in der toten Zeit genützt wird. Und dann ist es durch die Decke geschossen.

Die Bevölkerungsexplosion findet gar nicht statt, 2045 könnte das erste Jahr werden, in dem kein einziger Krieg auf dem Planeten stattfindet. Schon bald soll die letzte Diktatur fallen, während sich „Neuropa“ auf den Weg zum erneuten Leitbild des Planeten macht. Zu diesem etwas anderen Schluss kommt die Konkurrenz. Das deutsche Zukunftsinstitut. Die Autoren rund um Matthias Horx und den Österreicher Harry Gatterer erklären in ihrem Trend-Report 2014 mit dem Titel „Y-Events – Die positiven Überraschungen unserer Zukunft“, dass diese Welt nicht auf den sicheren Untergang zusteuert.

Eher streben wir einer Zukunft entgegen, in der heutige Utopien Realität geworden sind und „Schwarze Schwäne“ (Katastrophen-Events) durch Anpassung und Innovation positive Veränderungen auslösen. In ihrem Ausblick bis 2100 in neun Szenarien grenzt sich das Zukunftsinstitut von gängigen Katastrophenbildern (X-Events, abgeleitet von extrem) ab. Und zeigt überraschend positive Entwicklungen, die durchaus wahrscheinlich, aber noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen sind.

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