Schockwellen vom Bosporus nach Europa

Türkei-Krise: Experten fürchten, dass auch Europas Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wird. Wo weiteres Ungemach droht.

Zum Wochenstart starrten Börsianer gebannt auf die Türkei – und was sie dort sahen, gefiel ihnen gar nicht.

Die türkische Lira hat seit Jahresbeginn 40 Prozent an Wert verloren, ein Wirtschaftswachstum von sieben Prozent ist Geschichte und als Draufgabe sind gestern die US-Strafzölle für die Türkei in Kraft getreten. Und zwar mit 50 statt bisher 25 Prozent. „Stahl ist der viertstärkste Industriesektor der Türkei, fünf der 20 größten Exporteure des Landes sind Stahlproduzenten“, erläutert Georg Krenn, Österreichs stellvertretender Wirtschaftsdelegierter in Istanbul. Er beziffert die türkischen Stahlexporte in die USA mit aktuell 1,1 Milliarden US-Dollar.

Gift-Cocktail

Alles in allem ergeben die jüngsten Ereignisse am Bosporus einen Gift-Cocktail, der Börsianern und Wirtschaftswissenschaftlern gleichermaßen die Schweißperlen auf die Stirn treibt. Experten fürchten längst, dass sich die Türkei-Krise zu einer europäischen Bankenkrise und in Folge zu einer Finanzkrise auswächst. Banken rund um den Globus haben haben in der Türkei rund 194 Milliarden Euro Kredite ausständig, geht aus den Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hervor. Allein spanische Institute sollen 80 Milliarden Dollar im Feuer haben, bei Österreichs Banken geht es um insgesamt eine Milliarde.

Türkische Firmen und Banken, die sich in Dollar und Euro verschuldet haben, können die Schuldenlast nach der Lira-Abwertung schwerer stemmen. Ein Problem, mit dem unter anderem Firmen der Immobilien- und Baubranche kämpfen: Sie haben ihr Wachstum zuletzt mit Dollar-Krediten finanziert, kassieren ihre Einnahmen aber in türkischer Währung, die von einer Abwertung zur nächsten taumelt. Fremdwährungsschulden zurückzuzahlen, wird so zum Kunststück. Damit reißen betroffene Firmen Institute abseits des Bosporus in den Strudel der Türkei-Krise. Berechnungen zufolge sind ein Drittel der Schulden des privaten Sektors binnen eines Jahres fällig.

Clemens Fuest, Chef des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, hält die aktuelle Lage für brandgefährlich. „Wir müssen uns massiv Sorgen machen“, sagt er im Handelsblatt-Interview und spricht von einer „klassischen Wirtschafts- und Währungskrise“. Eine einfache Lösung könne man sich abschminken. Geht es nach Fuest, sollten die Türken beim IWF um Hilfe ansuchen. „Die Europäer sollten diesen Weg unterstützen.“ Ob es Erdogans Naturell entspricht, als Bittsteller gegenüber dem Westen vorstellig zu werden, darf bezweifelt werden. Zumindest, so lange er andere Wege sieht.

Effekte verpufft

Währenddessen versucht die türkische Zentralbank den freien Fall der Landeswährung zu stoppen, in dem sie an der Zinsschraube dreht. Bereits mehrmals wurden die Leitzinsen erhöht, die Effekte verpufften, der Kurssturz beschleunigte sich.

Investoren gefällt es zudem gar nicht, dass Erdoğan immer mehr in die Geldpolitik hineinregiert.

Auch, dass die Notenbank die Inflation von aktuell rund 16 Prozent in den Griff bekommt, wird bezweifelt. „Das Inflationsziel der türkischen Zentralbank liegt bei fünf Prozent. Das haben sie seit 2011 nicht erreicht“, sagt Richard Grieveson, Türkei-Experte des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Auch er sieht die offensichtliche Entschlossenheit, mit der Erdoğan es auf den Wirtschaftskrieg mit den USA ankommen lässt, als gefährlich. „Wenn er diesen Kurs weiter verfolgt, wird die türkische Wirtschaft schwer darunter leiden.“

Bisher trüben die neuesten Entwicklungen noch nicht die Stimmung in den Straßen Istanbuls, glaubt Georg Krenn. „Die Abwertung der Lira wirkt sich ja noch nicht auf die Endpreise im Land aus. Wer nichts mit den USA und Europa zu tun hat, merkt also noch keine Auswirkungen.“ Gestern hätten sich lediglich vor einem Louis Vuitton Geschäft lange Menschenschlangen gebildet. Araber haben den niedrigen Lira-Kurs dazu genutzt, sich mit der neuen Kollektion des französischen Luxuslabels einzukleiden, hat der Wirtschaftsdelegierte beobachtet.

Umso turbulenter ging es zum Wochenstart an Europas Börsen zu. Vor allem Banktitel kamen unter Druck. Die italienische UniCredit, die eine 40,9-Prozent-Beteiligung an der türkischen Yapi Kredit Bank hält, gab um 3,46 Prozent nach, die Deutsche Bank lag 2,17 Prozent im Minus. Auch österreichische Firmen bekommen die Türkei-Krise zu spüren, etwa das Cateringunternehmen Do&Co. Zwischenzeitlich brach der Titel des stark am türkischen Markt engagierten Unternehmens um fast zwölf Prozent auf 49,15 Euro ein.

Posse um Postings

Währenddessen kündigt das türkische Innenministerium Maßnahmen gegen negative Kommentare zur Wirtschaft in sozialen Netzwerken an. Seit dem 7. August seien 346 Nutzerkonten auf sozialen Netzwerken ausgemacht worden, in denen der Verfall der Landeswährung Lira auf provozierende Art und Weise kommentiert wurde.

Wo weiteres Ungemach droht

Neben der Türkei gibt es weitere Schauplätze, die Europas Finanzwelt seit einiger Zeit Sorgen bereiten. Infolge dessen wurden bereits viele Wachstumsprognosen nach unten revidiert.

USA

Die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten brummt, eine Krise wie vor zehn Jahren infolge aufgeblähter Kredit- und Immobilienmärkte ist nicht in Sicht. Jedoch ist mit Präsident Trump eine Komponente im Spiel, die äußerst unberechenbar ist. Manche seiner Tweets sorgten an den Börsen schon kurzfristig für Irritationen, wesentlich nachhaltiger wirkt jedoch seine Standortpolitik. Beschlossene (und angedrohte) Zölle führen zu Verwerfungen in der globalisierten Handelswelt. Trump hat sich bisher nicht nur mit der Türkei angelegt (wobei er hier einen politischen Grund angibt), sondern auch mit seinen Nachbarn Kanada und Mexico, indem er das seit 1994 bewährte Freihandelsabkommen NAFTA neu verhandeln will. Zudem ist er mit Russland, China und der EU  im Clinch (im Juli bezeichnete er alle drei als „Gegner“), wobei überraschenderweise EU-Kommissionspräsident Juncker vor kurzem bei einer Reise nach Washington weitere Zölle abwenden konnte. Generell gelten Zölle als wachstumshemmend.

Russland

Die Sanktionen infolge des Konflikts mit der Ukraine sind in Europa noch nicht zur Gänze verdaut, schon droht neues Ungemach wegen des Russland angelasteten Anschlags auf den russischen Ex-Agenten Skripal und dessen Tochter. Die US-Sanktionen sollen Exporte aus den Bereichen Elektronik, Laser, Sensoren sowie Öl- und Gastechnologie betreffen und um den 22. August in Kraft treten. Die Regierung in Moskau warnte vor einem Wirtschaftskrieg mit unabsehbaren Folgen. Der Rubel fiel bereits zum Dollar auf ein Zwei-Jahres-Tief. Laut Einschätzung Moskaus wird Russlands Wirtschaft nächstes Jahr nur noch 1,4 Prozent wachsen (nach 1,9 Prozent heuer).


Großbritannien

Ein Unsicherheitsfaktor liegt in Europa selbst. Mit dem EU-Austritt Großbritanniens  – geplant für Ende März 2019 – drohen Verwerfungen quer durch Europas Wirtschaft, sofern es nicht gelingt, die Trennung sauber durchzuführen. Ein entsprechendes Abkommen soll  bis Oktober unter Dach und Fach sein – doch die Verhandlungen stocken. Die Briten wollen u.a. eine Freihandelszone  mit der EU bilden, aber ihren Bankbereich davon ausnehmen. Brüssel lehnt das als Rosinenpickerei ab. Ohne Abkommen (harter Brexit) könnte es gravierende Folgen für den Waren- und Personenverkehr zwischen  EU und Großbritannien geben.

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