Kohlrausch: Ich kann vor allem für den deutschen Arbeitsmarkt sprechen, wo wir in industriellen Kernregionen tatsächlich Arbeitsplatzabbau sehen, etwa in der Auto- oder Stahlindustrie. Und gleichzeitig haben wir einen Fachkräftemangel, was eigentlich eine perverse Situation ist. Ein Grund dürfte sein, dass unsere Qualifizierungssysteme zu unflexibel sind und wir kaum von einem Beruf in den anderen wechseln können. In Österreich gibt es die Bildungskarenz, das halte ich für ein gutes Instrument. Völlig absurd ist ja auch, dass wir neben dem Fachkräftemangel mehr und mehr Menschen ohne Bildungsabschluss haben.
KI, Digitalisierung, Robotik. Das verschärft die Problematik noch einmal massiv ...
Ja, das fordert durch die Beschleunigung der Prozesse noch einmal ganz anders. Natürlich können weniger qualifizierte Tätigkeiten ersetzt werden und da sind wir wieder beim zu starren Qualifizierungssystem – und den Transformationsängsten.
Sie meinen die Abstiegsängste von Menschen, die für Populisten anfällig werden?
Ja, wir haben eine Studie in zehn EU-Ländern gemacht. Rund die Hälfte der Menschen hat Angst, dass sich Digitalisierung und Maßnahmen gegen den Klimawandel negativ auf ihre Jobchancen auswirken. Und ängstliche Menschen sind besonders anfällig für antidemokratische Einstellungen. Die extrem rechten Parteien in Europa können diese Ängste extrem erfolgreich mobilisieren. Umso wichtiger sind Maßnahmen dagegen, um den Menschen zu vermitteln, sie sind dem Transformationsprozess nicht hilflos ausgeliefert. Es geht letztlich um unsere Demokratie.
Haben Sie ein griffiges Beispiel?
Ich denke an das Ende des Bergbaus im Ruhrgebiet. In Wahrheit ist kein einziger betroffener Arbeiter – und da sind die Gewerkschaften auch sehr stolz darauf – in die finanzielle Unsicherheit abgerutscht. Dennoch ist etwas Identitätsstiftendes für die ganze Region verloren gegangen. Und weil die Zukunft so offen ist, kann auch keiner die Antwort auf die Frage geben: Was kommt danach?
Gleichzeitig hatten wir in Deutschland, stärker als in Österreich, einen massiven Rückbau des Schutzes in Zeiten von Arbeitslosigkeit. Das sind Erfahrungen, die Menschen massiv verunsichern. Deshalb glauben beispielsweise viele Menschen, eigentlich irrational, dass sie später einmal keine Pension bekommen werden.
In Österreich fordert die Arbeitgeberseite Lohnverhandlungen vermehrt auf Betriebsebene, statt der Kollektivverträge für ganze Branchen. Vorbild sind die deutschen Haustarifverträge bei Konzernen wie VW. Die Gewerkschaft ist da natürlich strikt dagegen. Aber macht mehr Flexibilität für den einzelnen Betrieb nicht durchaus Sinn?
Ich warne davor, diese Tür zu öffnen. Nicht alle, aber manche Haustarifverträge können das System der gewerkschaftlichen Mitbestimmung schwächen. Und natürlich sichert dieses System am Ende des Tages soziale Standards. Und natürlich bekommen die Menschen mit einem Kollektiv- oder Tarifvertrag auch mehr Geld, als die anderen. Aber der entscheidende Punkt ist, dass wir aus vielen Studien wissen, dass in Branchen mit Kollektivverträgen besser, also produktiver gearbeitet wird – und Kollektivverträge sozialen Zusammenhalt sichern. Wir brauchen alle Institutionen, die unsere Gesellschaft zusammen halten, dringender denn je.
Was sagen Sie zum massiven Teilzeittrend?
Es geht in erster Linie nicht um die abgeleistete Zeit, sondern um die Produktivität. Man kann in 30 Stunden produktiver sein, als mit 40 Stunden in der Woche. Oder im Homeoffice produktiver als im Büro. Wir hatten jetzt in Deutschland ein paar Tarifabschlüsse, bei denen sich die Menschen aussuchen konnten, ob sie mehr Geld oder mehr Freizeit wollen. Und wirklich alle, auch die Männer, nicht nur die Männer mit kleinen Kindern daheim, wollen mehr Zeit. Es spricht also viel dafür, dass sobald man sich das leisten kann, draußen ist.
Arbeitgeber sind oft gegen Teilzeit. Es müsse wieder mehr Vollzeit gearbeitet werden, sonst wäre der Wohlstand gefährdet ...
Teilzeit ist per se nichts Schlechtes, aber ein soziales Risiko für die Frauen. Sie kümmern sich in der Regel um die Kinder und verrichten die Pflegearbeit für die Älteren. Das heißt, sie leisten einen wesentlich höheren Anteil an unbezahlter Arbeit mit all den Auswirkungen bis hin zu einer geringeren Pension. Es wäre also erfreulich, wenn auch Frauen mehr Vollzeitjobs machen können. Dazu bräuchte es aber eine doppelte Umverteilung: Erwerbsarbeitszeit von Männern zu Frauen und Sorgearbeit von Frauen zu Männern.
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