Keese: "Ohne jede Frage: Google missbraucht sein Monopol"

Keese: "Ohne jede Frage: Google missbraucht sein Monopol"
Christoph Keese, Executive Vice President der Axel Springer SE, der führende digitale Verlag in Europa, über seine Vergangenheit im Silicon Valley, warum Whatsapp und Facebook jetzt noch kostenlos und gedruckte Zeitungen in Zukunft in Nischen sind.

KURIER: 2013 waren Sie mit Bild-Chefredakteur Kai Diekmann und anderen ein halbes Jahr im Silicon Valley, um das Tal, die Technologie zu verstehen. Disruption – das ist die Methode, das Mantra des Valley. Was versteht man darunter?

Christoph Keese: Disruption heißt Unterbrechung. Es ist ein Schlagwort für die in Kalifornien praktizierte Methode, Märkte zu attackieren und Marktführer zu verdrängen. Beispiel Bankenwesen: Wer die besten, praktischsten Zahlfunktionen auf Mobilgeräten anbietet, wird in Windeseile ein Millionen-Publikum aufbauen. Diejenigen, die mobil so zahlen, hinterlassen Datenspuren, die es der Bezahl-Plattform ermöglichen, andere Dienstleistungen anzubieten; Konsumkredite oder Baufinanzierungen beispielsweise. Der disruptive Einbruch in die Bankbranche erfolgt vor allem im Zahlungsverkehr.

Denkt jeder zwischen San Francisco und Palo Alto disruptiv?

Ich habe niemanden getroffen, der nicht disruptiv denkt. Das ergibt sich aus der Natur der Sache. Es handelt sich um Start-ups. Sie müssen mit relativ begrenzten Mitteln den größtmöglichen Erfolg erreichen. Das gelingt besonders dann gut, wenn man real bestehende Ineffizienzen abschafft. Technisch ist das oft schwer, aber das Silicon Valley ist gut im Lösen komplexer Aufgaben. Das sind Experten für das Bohren extrem dicker Bretter.

Was zeichnet Start-ups, Gründerzentren, die in den USA Inkubatoren genannt werden, aus?

Die Start-ups setzen ihren ganzen Stolz daran, schwierigste Probleme in einer bisher völlig undenkbaren Art und Weise zu lösen. Damit schaffen sie einen enormen Vorteil für die Nutzer, deren Herzen ihnen dann zufliegen. Viele Produkte sind so praktisch, dass sie ganz neue Benutzerschichten erschließen. Menschen, die vorher gar nicht gedacht hätten, dass sie ein solches Produkt jemals gebrauchen könnten.

Das klingt nach Steve Jobs, der mit iPod, iPhone und iPad solche Produkte geschaffen hat. Aber wie viele Jobs oder Zuckerbergs gibt es?

Es gibt Abertausende, wahrscheinlich Zigtausende Unternehmen im Silicon Valley, die so vorgehen wie Steve Jobs oder Mark Zuckerberg: groß denken, komplexe Aufgaben lösen, intuitive Oberflächen erzeugen. Apple arbeitet beispielsweise gerade daran, das Portemonnaie abzuschaffen. Schon heute ermöglicht Apple Pay das Bezahlen per Fingerabdruck und greift Banken damit disruptiv an. Fotos, früher zerknittert im Portemonnaie, sind bereits am Handy. Nun setzt Apple alles daran, auch den Führerschein – den letzten physischen Bestandteil des Portemonnaies – zu digitalisieren, gemeinsam mit den Verkehrsbehörden.

Wer profitiert von dieser Entwicklung?

Der Smartphone-Führerschein würde den gesamten Markt der Autovermietung und des Carsharings revolutionieren. Sie müssten sich beim Autovermieter dann nicht mehr anmelden, sparen 20 Minuten Wartezeit am Schalter und gehen direkt zum Auto. Sie spazieren einfach durch den Wagenpark und fahren mit dem Auto los, das Ihnen am besten gefällt. Führerscheinkontrolle, Bezahlen, Vertrag, Versicherung – das erledigt alles Ihr Handy für Sie im Hintergrund.

Effizienz, die Arbeitsplätze abschafft. Kein Parkwächter, kein Schaltermitarbeiter.

Keese: "Ohne jede Frage: Google missbraucht sein Monopol"
Ja, Sie haben recht, das klingt bedrohlich. Ich kann verstehen, wenn man sich davor fürchtet. Viele Menschen werden von diesen disruptiven Entwicklungen betroffen sein, und viele werden keinen neuen Job finden. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Aus makroökonomischer Sicht besteht allerdings kein Anlass zum Pessimismus. In der Geschichte der Technik ist durch Innovationen die Summe der Arbeit nie zurückgegangen. Ganz im Gegenteil: Menschen haben sich Freiräume zu mehr Produktivität und Wohlstand erschlossen, indem sie ihre gewohnten Tätigkeiten effizienter organisiert haben. Denken Sie nur an die Landwirtschaft: Früher haben 96 Prozent der Menschen im Nährstand gearbeitet. Heute sind es in entwickelten Ländern vier Prozent. Sind die restlichen 92 Prozent alle arbeitslos? Nein, sie gehen anderen Aufgaben nach und erzeugen andere Güter. Das ist der Grund, warum technischer Fortschritt zu Wohlstand führt: Es kommen mehr Güter in den Verkehr. Wohlstand entsteht ja nicht durch Geld, sondern durch Güter.

Das bedeutet: wenige Reiche und viele Arme.

Ich bin nicht sicher, ob man das so schon sagen kann. Wir stehen ganz am Anfang der Digitalisierung. Sie ist erst wenige Jahrzehnte alt. Über die Bilanz müssen Wirtschaftshistoriker in 100 Jahren entscheiden. Aber ja, es gibt beunruhigende Indizien: Die Digitalisierung erzeugt derzeit einige hoch produktive, hoch bezahlte Jobs in einigen Teilen der Welt, und Europa gehört bedauerlicherweise nicht dazu. Wer nicht zur Gemeinde der Produzenten gehört, zählt zu den Konsumenten und wird abgeschnitten von der höchsten Wertschöpfung, die heutzutage möglich ist. Allerdings ist die Verteilung des digitalen Wohlstands nicht gottgegeben. Wir Europäer können aufholen, doch bedarf es dazu einer ernsthaften Willensanstrengung, die auf breiter Front derzeit nicht zu erkennen ist.

Von welchem Zeithorizont sprechen wir?

Wir sind mittendrin in dieser Entwicklung. Um exemplarisch beim Auto zu bleiben: Die meisten Autohersteller haben noch nicht begriffen, dass die zentrale Wertschöpfungskomponente des Autos nicht mehr der Motor oder die Bremsen sein werden, sondern der Bildschirm. Genauer gesagt: Die Plattform, die auf diesem Bildschirm läuft. Sie wird der wichtigste Platz für Konsum werden. Das Auto, besonders das selbstfahrende Auto, wird von der Digitalindustrie umgewertet werden zu einem Transportmobil, das uns zu den Stätten des Geldausgebens bringt. Nirgendwo sind wir besser mit Werbung zu beeinflussen als im Auto auf dem Weg zum Einkauf. Milliarden werden dafür ausgegeben werden, uns nach links statt nach rechts abbiegen zu lassen. Ja, das ist gespenstisch, aber noch gespenstischer ist, dass die Autoindustrie nicht erkennt, wie sie zu Blechhüllen-Herstellern reduziert werden, wenn sie nicht selbst die Plattformen auf ihren Bildschirmen beherrschen.

Wer denkt in Plattformen?

Google, Facebook, Amazon, Facebook, Uber, Whatsapp, Pinterest, Flipboard, um nur einige zu nennen. Eigentlich das ganze Silicon Valley. Bei europäischen Unternehmen fallen mir nur wenige ein ein. Ausnahmen gibt es natürlich. Unser Unternehmen zum Beispiel, also Axel Springer, hat früh in Rubriken-Plattformen investiert: Portale für Stellen, Immobilien, Autos... Wir haben uns, wie einige andere Verlage auch, in einem Teil unseres Geschäfts zu Plattform-Anbietern entwickelt. Stepstone gehört zum Beispiel zu uns, ebenso wie Se Loger, Frankreichs größtes Immobilien-Portal.

Ist die digitale Plattform einem Marktplatz gleichzusetzen?

Nicht ganz. Auf einem Marktplatz herrscht Transparenz zwischen Anbietern und Nachfragern, auf einer Plattform nicht. Plattformen schotten Angebot und Nachfrage voneinander ab. Darin liegt ihre wirtschaftliche Stärke. Sie werden für beide Marktseiten unverzichtbar. Ohne sie besteht kein Zugang zur jeweils anderen Seite. Überdies konvergieren Plattformen oft zum Monopol. Das macht sie noch mächtiger. Viele erfolgreiche Plattformen diktieren Anbietern und Nachfragern ihre Konditionen. Das macht sie ungeheuer profitabel.

Facebook ist eine Plattform, die kein Geld verlangt. Ist es vorstellbar, dass es diese Plattform irgendwann nicht mehr gibt?

Jede Plattform, auch Facebook, ist disruptiven Attacken ausgesetzt. Aber es gibt auch gute Verteidigungsstrategien. Zum Beispiel, indem man den Angreifer kauft. Facebook hat Instagram und Whatsapp für sehr viel Geld übernommen. So lenkt man die Disruption auf seine Mühlen. Wer die Milliarden-Preise für Instagram und Whatsapp übertrieben findet, unterschätzt die Gefahr, die von Disruptoren ausgeht.

Facebook, Whatsapp, Instagram, gleichsam koexistierende Monopole – sind für Millionen von Nutzern kostenlos. Wo ist der Haken?

Durch die schiere Masse an Publikum wird das Geld verdient. Je mehr Benutzer eine Plattform hat, desto leichter kann sie Geld mit Werbung verdienen. Deswegen denken viele kalifornische Unternehmen in den ersten Jahren ausschließlich an Nutzer-Wachstum und nicht an Umsatz – das ist völlig rational.

Auf Whatsapp sehe ich keine Werbung.

Weil es in der jetzigen Phase ausschließlich um Wachstum geht. Werbung könnte das Erlebnis des Nutzers beeinträchtigen, und das könnte die steile Wachstumskurve abflachen lassen.

Warum ist es dennoch noch immer gratis?

Abwarten. Das wird schon noch kommen. Whatsapp hat bald eine Milliarde Nutzer. Würden Sie jedem dieser Nutzer 50 Cent pro Monat abverlangen, kämen Sie schon auf 6 Milliarden Dollar Jahresumsatz. Aber dieser Preis würde das Wachstum verlangsamen. Warum also bei einer Milliarde Nutzer monetarisieren, wenn man auch die zweite oder dritte Milliarde abwarten kann? In Aussicht stehen 12 oder 18 Milliarden Dollar Umsatz. Da kann es klug sein, mit dem Schalten von Werbung oder dem Einführen von Abo-Gebühren noch zu warten.

Stichwort Google. EU, Verlage, federführend der Springer-Verlag, machen sich für das Leistungsschutzrecht stark. Wo genau setzt Ihre Kritik an?

Mehr als zwei Drittel der Menschen geben an, dass aktuelle Ereignisse einer der Hauptgründe ist, warum sie Suchmaschinen benutzen. Vielen Lesern reicht die bloße Übersicht, die sie bei Google finden. Das ist ein Teil des Markts – sozusagen der Markt für Kurzüberblicke. Ein anderer Teil des Markts sucht ausführliches Lesen. Wer die ganze Geschichte verschlingen möchte, klickt auf die Seite des Verlags durch. Das ist erfreulich. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass viele Kurzüberblick-Leser bei Google bleiben und gar nicht erst klicken. Das ist nicht tolerierbar, solange Google Nullkommanull für die Zulieferung von Verlagen zu zahlen bereit ist.

Das heißt: Viele potenzielle Leser besuchen bild.de, welt.de oder kurier.at nicht mehr, weil es Google gibt?

Für einen Teil der Nutzung stimmt das. Ja, wer sich an der Ampel, in der S-Bahn oder vor dem Mittagessen mal kurz auf den neuesten Stand bringen möchte, schaut bei Google vorbei und macht sich gar nicht mehr die Mühe, auf den Link zu klicken. Noch einmal: Das ist ein wichtiger Teil des Nachrichtenmarktes, aber freilich nicht der ganze. Über diesen Teil des Marktes führen wir die Auseinandersetzung mit Google. Wir finden, dass Verlage und Journalisten an den Werten beteiligt werden sollten, die sie bei Google erzeugen. Über die Höhe dieses Werts mag man diskutieren. Aber nicht akzeptabel ist der Wert, den Google für die Leistung ansetzt – nämlich null. Hier diktiert eine marktbeherrschende Plattform den Verlagen ihre Konditionen. Das kann so nicht bleiben.

Sind Sie zuversichtlich, dass das Monopol von Google durch Gesetze zu kontrollieren ist?

Natürlich. Alle großen, internationalen Konzerne halten sich getreulich an die nationalen und internationalen Gesetze. Sie können es sich nicht leisten, das nicht zu tun. Aber es muss eben auch Gesetze geben, die für fairen Interessensausgleich sorgen. Teils gibt es diese Gesetze noch nicht, dann müssen sie geschaffen werden – die Europäische Kommission hat unter dem Titel "Digitaler Binnenmarkt" eine solche Initiative gerade angekündigt. Teils gibt es heute schon Gesetze, dann müssen sie konsequent angewandt werden. Das geschieht manchmal schon, aber noch zu selten. Ein gutes Beispiel ist der Datenschutz. Die deutschen Verbraucherschützer haben Facebook gerade wegen der neuen Geschäftsbedingungen verklagt, weil sie mehrere Klauseln für gesetzes- und sittenwidrig halten. Jetzt kommt der Fall vor Gericht, wo er auch hingehört.

Moderne Reglementierung?

Regeln sind nichts Schlechtes. Ohne Regeln keine Zivilisation. Ohne Ampel kommen Sie halt nicht über eine belebte Kreuzung. Es gilt, kluge Regeln zu finden, die Innovation nicht verhindern, Märkte nicht abschotten, aber trotzdem für Gerechtigkeit sorgen. Wettbewerb ist großartig. Die Innovationskraft der Unternehmen aus dem Silicon Valley ist großartig. Freihandel ist großartig. Und Monopole sind nicht verboten. Doch Missbrauch von Monopolen verstößt gegen Gesetze. Dieser Missbrauch muss unterbunden werden.

Missbraucht Google sein Monopol?

Ja, ohne jede Frage. Gleich in vielerlei Hinsicht. Zum Beispiel durch die Verzerrung der Suchergebnisse, indem eigene Produkte immer ganz oben erscheinen. Deshalb gehört Axel Springer auch zu den Klageführern. "Google", sagt die EU-Kommission ganz deutlich, "missbraucht seine marktbeherrschende Stellung".

Werden wir uns in ein paar Jahren noch Bild-Zeitung und KURIER in die Hand drücken?

Ja, mit Sicherheit. Es wird Zeitungen noch lange geben. Wahrscheinlich viel länger, als manche Pessimisten sagen. Aber es könnte sein, dass sich gedruckte Zeitungen zu Nischen entwickeln. Es wird auch immer einen Markt für bibliophile Bücher geben – als Nische. Ich zum Beispiel kaufe mir viele Bücher doppelt. Ein Exemplar als eBook für unterwegs, und eins für zu Hause und das Regal.

Sie lesen gerne auf Papier?!

Wahnsinnig gerne. Ich lese meine Lieblings-Zeitungen und -Magazine viel lieber auf Papier. Aber dennoch: den größten Teil meines Lesepensum absolviere ich online. Wir als Verlage und Journalisten sollten die Idee der Zeitung vom Medium des Papiers emanzipieren. Zeitung hat eigentlich mit bedrucktem Papier nichts zu tun. Es ist eine viel größere Idee: verlässliche Information, mitreißende Inspiration, gute Unterhaltung, verantwortliche Absenderschaft. Wenn wir Zeitung so definieren, wie sie definiert werden muss, wird sie für immer bestehen. Uns muss gleichgültig werden, ob sie gedruckt oder im Netz gelesen wird.

LEXIKON: Disruption (engl. zerreißen) Entwicklung, die bestehende Technologie verändern bzw. verdrängen kann.

Inkubator Gründerzentrum, das Infrastruktur für Startups bereitstellt.

Singularity Forschung, die sich mit künstlicher Intelligenz (KI) befasst, davon ausgeht, dass Maschinen sich ohne menschliches Zutun verbessern können. Ray Kurzweil u. Rob Nail von der Singularity University im Silicon Valley glauben, dass durch KI menschliche Unsterblichkeit möglich sein wird.

Christoph Keese: Geboren 1964 in Remscheid als Sohn einer Lehrerin und eines Managers lebte er ob der Profession seines Vaters in Dortmund, Paris, San Francisco und Essen. Keese absolvierte die Henri-Nannen-Journalistenschule und ein Wirtschaftsstudium. In den 1990ern war der Journalist u. a. Chefredakteur der „Financial Times Deutschland“. 2001 wechselte er zum Springer-Konzern, war Chefredakteur der „Welt am Sonntag“, „Welt Online“, Mitglied der Geschäftsführung. Seit 2014 ist er Executive Vice President der Axel Springer SE. Zum Verlag gehören Bild-Zeitung, Welt, Rolling Stone u. v. m.

Keese ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Mit seiner Familie war er 2013 ein halbes Jahr in Palo Alto, um „dort Ideen für digitales Wachstum zu entwickeln.“ Sein Buch legt davon Zeugnis ab.

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