"Wir sollten uns öfter sein lassen"
KURIER: Wieso können uns Jobsorgen so stark belasten – ist ja nur die Arbeit?
Michael Lehofer: Das Gehirn ist auf Überleben gepolt. Es versucht ständig, jene Dinge, von denen es glaubt, dass sie wichtig fürs Überleben sind, wahrzunehmen und Veränderung primär zu vermeiden. Erst die unvermeidliche Veränderung ist letztlich akzeptabel. Die Arbeit dient der materiellen Sicherheit. Wenn sie in Gefahr ist, schreit das Gehirn Alarm. Das kann auch passieren, wenn das in einer Situation nicht plausibel ist.
Ein Fehlalarm also.
Ein Alarm ist eine emotionale Reaktion – das gibt einen Spielraum, in dem man handeln kann, aber nicht muss. In der Angst wird das gefährliche Objekt identifiziert, man bereitet sich vor, wie man damit umgehen könnte. Die Angst ist da, weil alte Muster im Gehirn abgespeichert sind. Das können auch Muster sein, die wir aus der Familiengeschichte mitnehmen, Ängste, von Vater oder Mutter, die wir uns zu eigen gemacht haben. Oder es sind Ängste aus persönlichen Erfahrungen. Das hat alles durchaus seinen Sinn, jedoch sollten die eigenen Emotionen einem dienen, aber man selbst sollte nicht Diener der eigenen Emotionen sein.
Wieso tigern sich Karrieristen so stark in ihren Job hinein, geben alles dafür auf?
Da geht es sehr stark um die Selbstverwirklichung. Man macht etwas und erkennt sich in dieser Handlung selbst, man findet sich als Individuum. Das schafft Identität. Hinzu kommt: Ein Karrieremensch vermutet, dass er früher oder später in eine Machtposition kommt, von wo aus er dann seine eigene Welt determinieren kann. Macht ist ja nichts anderes als die Verheißung von uneingeschränkter Freiheit. Wir nehmen viel Versklavung in Kauf, um zu dieser Macht zu kommen – wobei sich die Verheißung meist nicht erfüllt, weil man mit dem Aufstieg in neue Zwänge rutscht, die man vorher nicht kannte.
Viele Firmen strukturieren gerade um, den Mitarbeitern gefällt das meist gar nicht.
Wir sind innerlich wenig bereit, Veränderungen zu akzeptieren, wenn kein Druck da ist. Erst wenn der Druck groß wird und man schon nicht mehr kann, sind wir veränderungsbereit. Aber dann haben wir oft keine Energie und Ressourcen mehr für diese Veränderung. Das Hinauszögern von Veränderungen hat zur Folge, dass es dann besonders bitter wird.
Wieso diese Abwehr gegenüber Veränderungen?
Das ergibt sich aus der Tatsache, dass unser Gehirn selbst rekonstruktiv funktioniert – es versucht, sich zu erhalten. Obwohl wir uns auf der anderen Seite auch ständig adaptieren müssen. In Wahrheit ist das Bewahren also eine große Illusion. Veränderung ist ein Prozess, in dem man sich erst auf die neue Identität einstellen muss. Erst wenn man die neue Identität in sich geschaffen hat, kann man in die neue Haut schlüpfen.
Wie kann man sich gegen Krisen stärken?
Es gibt Situationen, die sehr schwierig sind – die man aber nicht verändern kann, so sehr man das auch will. Wichtig ist dann, sich nicht um die Sache zu kümmern, sondern um sich selbst. Es wäre günstig, so zu leben, am heutigen Tag das Gefühl zu haben, wirklich sein eigenes Leben zu leben, froh zu sein, im jetzigen Moment zu leben. Wenn man so in der Gegenwart verankert ist, wird die Furcht vor Dingen, die wir nicht verändern können, sukzessive geringer. Wieso leben die Menschen nicht viel stärker in der Gegenwart?
Wir haben die Neigung, innen und außen zu verwechseln. Menschen verlieren sich, weil sie in ihren Vorstellungen und Fantasien versinken, die aber nichts mit der Gegenwart und der Realität zu tun haben. Diese Vorstellungen geben innere Sicherheit, sie sind so, wie man sie sich ausdenkt. Die Realität hingegen ist unberechenbar.
Wieso fallen uns manche Entscheidungen so immens schwer?
Schwierige Entscheidungen haben immer mit qualvoller Ambivalenz zu tun: Wenn wir uns auf das eine einlassen, haben wir das andere nicht. Wir zögern die Entscheidung also lieber hinaus, weil wir damit die Möglichkeit offen halten, beides zu haben – und haben damit eigentlich nichts. Faktum ist: Jede Entscheidung ist eine emotionale Entscheidung. Wenn wir uns nicht entscheiden können, kommen wir mit den widersprüchlichen Gefühlen nicht zurecht, wir können unsere eigene emotionale Sprache nicht klar verstehen. Daher zahlt es sich aus, sich einen Zeitraum zu gönnen, wo man beschließt, keine Entscheidung zu treffen. Damit steigt man aus der Ambivalenz aus. Die leise Information des Spürens kann man dann besser identifizieren. Nach dem Motto: Entscheiden heißt, sich dem Entschiedenen zu ergeben.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von "nicht fördern und nicht hemmen". Wenn man nicht interveniert, eine Sache nicht fördert und nicht hemmt und auch nicht manipuliert, kann man schauen, wie sie wirklich ist. Dann wird alles klar.
Aber der Mensch will doch lieber gestalten.
Grundsätzlich ist es auch gut, Entscheidungen zu treffen, weil sie sonst unser Hirn blockieren und unsere Aktivität hemmen. Da ist etwas offen, das nicht erledigt ist. Man kann sich aber vor Augen führen, dass man sich nie entscheiden muss. Auch wenn es dann die Möglichkeit gibt, dass die Entscheidung von jemand anderem getroffen wird. Aber auch das könnte ein guter Weg sein, weil man alle Determinanten, die zu einer Entscheidung führen, oft gar nicht erfassen kann.
Ein Appell zu mehr Gelassenheit?
Gelassenheit ist in der Regel eine gute Idee. Das bedeutet, dass man sich selbst einfach sein lässt. Wenn wir mit anderen so umgehen würden, wie mit uns selbst, hätten wir keine Freunde mehr, weil wir uns selbst nie in Ruhe lassen, uns ständig analysieren, trösten, verändern, kritisieren und optimieren. Aber man kann nicht ständig etwas von sich fordern, man muss es irgendwann auch gut sein lassen.
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