Warum immer mehr Jungmediziner Österreich verlassen
7. Juli 2017: 15.991 Menschen in Österreich, so der Anmelde-Stand, werden an diesem Freitag im Hochsommer zum Aufnahmetest für das Medizinstudium antreten. Ein Monat später, nach Auswertung der Ergebnisse, sind 1620 ihrem Traumjob einen Schritt näher – und dürfen im Herbst an einer der öffentlichen Medizinunis in Österreich ihr Human- oder Zahnmedizinstudium beginnen. Nach mindestens zwölf Semestern beenden rund 1600 Menschen dieses fordernde und intensive Studium. Es folgen weitere Jahre der Ausbildung, bis sie schließlich als Ärzte eigenständig praktizieren dürfen.
Im besten Fall tun sie das in Österreich. Immer öfter entscheiden sich junge Ärzte aber für die Option Ausland. Das überrascht nicht. Sie sind jung, motiviert, mobil und mit ihren Fähigkeiten nicht an Sprache oder Ort gebunden. Eine neue Erhebung der Statistik Austria hat vergangene Woche deutlich gemacht, wie viele Medizin-Absolventen nach ihrem Abschluss ins Ausland ziehen. Die Zahlen zeigen, wo Medizinabsolventen, die 2011 ihr Diplomstudium abgeschlossen haben, drei Jahre später leben und arbeiten. Fazit: Nicht nur die ausländischen ziehen weg, auch immer mehr inländische: 84,3 Prozent der deutschen Absolventen verlassen Österreich; 68,6 Prozent der EU-Ausländer (ohne Deutschland) und 59,6 Prozent der Nicht-EU-Bürger. Und: 8,4 Prozent der österreichischen Absolventen suchen das Weite. Tendenz: steigend.
Ärzte-Produzent für die Welt
"Österreich ist ein Ärzte-Produzent für die Welt", erklärte der Rektor der Medizinischen Universität Wien, Markus Müller, im KURIER-Gespräch. "Ich vergleiche die Abwanderungs-Situation gerne mit einem Eimer, der voller Wasser ist." Der Eimer ist die medizinische Versorgung, das Wasser sind die Medizin-Absolventen. "Das Problem ist, dass dieser Eimer ein Loch hat. Dieses Loch sind die Absolventen, die Österreich verlassen. "
Müller betont: "Wir haben kein Nachwuchs-Problem, wir haben ein Abwanderungsproblem." Das Medizinstudium in Österreich sei begehrt, noch nie wollten so viele junge Menschen Arzt werden. Auch die Absolventenzahlen sind konstant, die Drop-out-Quote liegt bei niedrigen zehn Prozent. Aktuell arbeiten 45.000 Ärzte in Österreich - ein Höchsstand. Der viel zitierte Ärztemangel speise sich hauptsächlich aus der Herausforderung, ausreichend Ärzte in ländliche Regionen zu bringen, erklärte das Wissenschaftsministerium. "Als Universität sehen wir uns nicht unter Druck", sagt Müller. Die Abwanderung aufzuhalten sei die große Herausforderung in der Ärztebedarfs-Debatte, bestätigte auch das Wissenschaftsministerium.
Warum gehen sie?
Gründe, warum Jungmediziner gehen, gibt es viele. Manche kehren wegen ihrer Familien nach Hause zurück. Meist aber ist das Karriere-Angebot im Ausland schillernder, die Arbeitsbedingungen besser, die Bezahlung lukrativer. Die Schweiz, Deutschland und England rangieren hier als Medizin-Auswanderungsland auf den vordersten Plätzen. Das nutzen diese Länder für sich: "Die Schweiz etwa bildet deutlich weniger Mediziner aus, als sie tatsächlich brauchen würde. Denn sie weiß: aus dem Ausland kommen neue nach", so Müller. Eben auch Absolventen aus Österreich – aktuell sollen rund 3000 österreichische Ärzte in Deutschland und in der Schweiz arbeiten.
Auch eine Rolle spielt, dass das Arbeitsmarktangebot im Inland wenig attraktiv ist. "Österreich hat ein sehr spitalslastiges System. Die jungen Ärzte werden hier oft unter ihrem Wert eingesetzt. Sie machen Pflegetätigkeiten oder Sekretariatsarbeiten anstatt sich weiterzuentwickeln, Zeit mit Patienten zu verbringen und näher an ihrer hoch qualifizierten Kerntätigkeit zu sein", erklärt Markus Müller.
Was die Bezahlung angeht, habe Österreich die Gehaltsschere "recht erfolgreich schließen können", heißt es aus dem Wissenschaftsministerium. Die Arbeitszeit sei verkürzt und die Gehälter um bis zu 30 Prozent nach oben angepasst worden. "Aus Sicht der Krankenanstalten müsste es daher eigentlich eine Verbesserung geben." Der Präsident der Wiener Ärztekammer, Thomas Szekeres, mahnt hierzu aber generell: "Allein mit Geld können wir den Nachwuchs nicht ködern." Es brauche mehr Anreize.
Abwanderung wird Herausforderung
Langfristig wird die wachsende Abwanderung der Medizinabsolventen ins Ausland, gekoppelt mit den Pensionierungen der im Moment praktizierenden Ärzte, eine Herausforderung werden, warnen Experten. Die Ärztebedarfsstudie 2012 von Ärztekammer und Ministerien schätzt, im Jahr 2030 werden 2764 bis 7409 Ärzte in Österreich fehlen. Leo Chini, Leiter des Forschungsinstituts für Freie Berufe an der WU Wien, prognostiziert für 2030 sogar ein Minus von 3000 bis 4000 Ärzten alleine für Wien. Ärztekammerpräsident Szekeres: "Wir brauchen dringend einen Masterplan für Jungmediziner, um den dringend benötigten Nachwuchs im Land zu halten."
Dennoch: Die 2015 gegründete Medizinische Fakultät der JKU Linz plant, ihre Studienplätze von aktuell 120 bis 2022 um 300 zu erhöhen. Aus Sicht des Wissenschaftsministeriums sei eine Aufstockung der Studienplätze allein allerdings nicht die Lösung, der Abwanderung vorzubeugen – schließlich zögen die Absolventen vor allem aus beruflichen Gründen weg.
Optimierungspotenziale für den Arbeitsmarkt hat die Ärztebedarfsstudie 2012 identifiziert: Es brauche einen Ausbau der Pflege, eine bessere Arbeitsteilung in den Gesundheitsberufen, Ärzte müssten von den Administrationsaufgaben entlastet werden. Auch attraktivere Ärzteverträge und eine bessere Koordinierung zwischen Bund, Ländern und Interessensvertretern könnten ein Hebel dafür sein, Absolventen in Österreich zu behalten, heißt es aus dem Wissenschaftsministerium. "Der Nachwuchs braucht Gestaltungsmöglichkeiten und eine bessere Wertschätzung. Ärzte müssen wieder 100 Prozent Arzt sein dürfen", fordert in diesem Zusammenhang auch der Wiener Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres.
Ärzte importieren?
Aber auch gute Kräfte aus dem Ausland zu holen könnte dem Abwanderungs-Problem entgegenwirken. Österreich beschäftigt aktuell vier Prozent im Ausland ausgebildeter Ärzte – OECD Schnitt sind 17 Prozent. Kerstin Roubin, Leiterin Executive Search im Health Care Bereich und Managing Partnerin bei Boyden, sucht für heimische Krankenhäuser und Rehabilitationszentren Top-Ärzte aus dem Ausland. Ihre Beobachtung: "Die Anerkennung von Abschlüssen ist in Österreich nicht einfach. In anderen Ländern ist der Zugang zum Arbeitsmarkt niederschwelliger." Auch sie sorgt die Abwanderung der Medizinabsolventen, sie bleibt aber optimistisch: "Man kann sie später ja wieder nach Österreich zurückholen."
Wie? "Krankenhausträger und Institutionen könnten mehr Employer Branding machen." Dass man in der Kommunikation nach außen etwas verbessern könnte, bestätigt auch die Ärztekammer Österreich. Allerdings seien die Regelungen für Werbung von Land zu Land unterschiedlich, das Ärztegesetz sehe hier Einschränkungen vor. Große und kleine Häuser, vor allem in ländlichen Gebieten, könnten sich jedoch durchaus stärker als attraktive Arbeitgeber positionieren, so Kerstin Roubin. "Und sie sollten lernen, um die Jungen bereits während ihres Studiums zu buhlen."
KURIER: Medizin zu studieren ist nicht einfach, das Reinkommen ins Studium und das Bestehen ist hart. Wie geht es Ihnen mittendrin?
Dominik Ensle: Die Aufnahmeprüfung ist natürlich hart, im Studium selbst ist der Konkurrenzkampf nicht mehr so groß. Die Drop-out-Quote liegt bei zehn Prozent, was wirklich gut ist. Die meisten gehen freiwillig, sie werden nicht rausgeprüft. Die Statistik zeigt auch: Vor dem EMS-Test (Eignungstest für das Medizinstudium, Anm.) haben 2000 Menschen in Wien Humanmedizin begonnen und 600 sind am Ende übergeblieben. Heute beginnen 660 und es schließen auch etwa 600 ab. Die Absolventenzahlen bleiben also gleich.
Als Arzt muss man sich früh entscheiden, wohin es nach dem Studium gehen soll.
Es wäre nicht schlecht, früh zu wissen, wohin es geht. Man sollte sich jetzt schon, Ende des vierten Jahres, für das sechste Jahr, also das klinisch-praktische Jahr, anmelden. Den klassischen Turnus von früher gibt es ja nicht mehr, jetzt gibt es die verpflichtende Basisausbildung, in der man zwei konservative und ein chirurgisches Fach nehmen muss. Im Moment gibt es darauf acht Monate Wartezeit.
Was machen Studierende in dieser Wartezeit?
Das ist unterschiedlich. Die meisten arbeiten, viele von ihnen gehen auch ins Ausland. Die Schweiz und Deutschland sind da sehr attraktiv. Die Lehre in der Schweiz soll besser sein, man ist dort nicht so sehr Systemerhalter. In Österreich wird man, anstatt sich weiterzuentwickeln, teilweise für nicht-ärztliche Tätigkeiten eingeteilt.
Wie schätzen Sie Ihre Chancen später am Arbeitsmarkt ein?
Die Chancen sind schon gut. Der Ärztemangel ist relativ, im Europaschnitt hat Österreich die meisten Medizinstudenten auf Einwohner. Das Problem ist, ein Drittel der Absolventen geht weg. Viele argumentieren ihren Wegzug damit, im Ausland mehr zu verdienen. Jedoch ist die Schweiz zum Beispiel ja auch teuer zum Leben. Was die Ausbildung betrifft, scheint sie aber die Bessere zu sein. Es gibt bessere Mentoring-Programme, bessere Betreuung.
Ist man als Arzt in Österreich aufgrund der Ärztemangel-Debatte heiß begehrt?
Wenn man in die Psychiatrie oder Anästhesie gehen will, kann man es sich sicher aussuchen, wo man arbeiten möchte. In anderen Fachrichtung, wie zum Beispiel in der plastischen Chirurgie oder der Dermatologie und in den Ballungsräumen sieht das anders aus.
Was sind Ihre Pläne?
Ich möchte die Wartezeit auf das klinisch-praktische Jahr in einem Pharmakonzern im Managementbereich verbringen. Und dann in die Dermatologie, Rheumatologie oder die Orthopädie gehen.
In Österreich oder im Ausland?
Am liebsten Österreich, am liebsten Stadt.
Die Gesundheitsministerin Pamela Rendi-Wagner hat am Dienstagabend bei der UNIQUE talk-Diskussion erklärt, dass sie den Bedarf an Ärzten zu einer ihrer Prioritäten macht. Derzeit gebe es unterschiedliche Statistiken von verschiedenen Stellen, was zu einer unsicheren Datenlage führe. Auf Basis dieser „will ich nicht Politik machen“, sagte sie. Sie habe nun den Auftrag erteilt, diese Datenlage zu präzisieren und zu erheben, wie viele Medizinabsolventen Österreich aktuell hat, in Zukunft braucht und aus welchen Gründen sie Österreich nach dem Studium verlassen. Auch die Demografie der Ärzteschaft will sie genauer untersuchen.
Ende Juni soll ein erster Bericht fertig sein , auf dessen Basis eine fundiertere Diskussion stattfinden soll.
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