Warum wir gerade jetzt wieder gern auf Märkte gehen
Die Welt auf den Wiener Märkten folgt anderen Regeln. Nicht anderen Coronaregeln. Die werden auch hier tunlichst eingehalten. Und falls man einmal aufs Maskentragen vergisst, steht ein meist freundlicher Mitarbeiter des Wiener Marktamtes parat, um an die wichtigen Maßnahmen zu erinnern.
Aber: Während es die Stadt außerhalb des Marktgebietes zwischen Lockdown und Öffnung hin und her beutelt, folgt die Welt der 22 Wiener Tages- und Wochenmärkte eigenen Gesetzen.
Puslierende Netzwerke
Das Marktvolk oder die „Standler“, wie sich viele selbst bezeichnen, haben besondere Arbeitszeiten, ein solidarischeres Miteinander. Ja, selbst die Ortsangaben folgen hier anderen Regeln. Sucht man nach einem bestimmten Stand, etwa nach der Arge Rosenauerwald am Yppenplatz, so ist die Angabe nicht Gasse-X oder Nummer Sowieso.
Sondern „Das Standl Visavis von Yppenplatz 2.“ Oder: Takan’s Delikatessen am Kutschkermarkt ist am Stand 48, Höhe Schulgasse zu finden. Die pulsierenden, kleinzelligen Netzwerke, die die Märkte ausmachen, sind besonders widerstandsfähige Inseln der Seligen innerhalb einer Stadt.
Kritische Infrastruktur
Die kleinen, selbstständigen Marktstände und ihre wind- und wetterfesten Betreiber sind in Krisen wie diesen besonders resilient. Im vergangenen Jahr waren sie kaum von Einschränkungen betroffen.
Als Nahversorger sind sie infrastrukturkritisch und übernehmen eine wichtige Rolle innerhalb der Stadt. Eine Aufgabe, die in der Bevölkerung großen Zuspruch findet.
„Durch die Krise sind die Märkte erwacht. Die haben ein neues Selbstbewusstsein bekommen und als Regionalanbieter haben wir an Format gegenüber Supermärkten gewonnen“, sagt Thomas Anderl.
Er betreibt die Arge Rosenauerwald, einem regionalen Biostand in der Nordzeile des Yppenplatzes, das seit den 1980er Jahren mit kleinen regionalen Biobauern zusammenarbeitet. Hier bekommt man mitten in der Stadt frisches Brot, Obst, Gemüse, Käse und Fleisch von den kleinen Bauern aus der Umgebung.
Bewusstsein für Hochwertiges wächst
Die Wiener Märkte sind Profiteure einer grassierenden Bewusstseinswelle – im positiven Sinne. Denn in der Bevölkerung ist ein wachsendes Verständnis für regionale Produkte, für hohe Qualität und für Solidarität mit Nachbarn entstanden.
„Regionale Märkte funktionieren in der Krise. Anders als international abhängige Handelsketten, bei denen alles stillsteht, wenn ein Strang durchtrennt wird.“ Das merkt man auch am Zulauf, so Anderl.
Sein Telefon läutet immer wieder. Zuerst ruft sein Sohn an. Er steht beim Standl am Karmelitermarkt. Sie sind jetzt schon am Vormittag praktisch ausverkauft.
Ob die Kunden wegen des Lockdowns oder wegen Ostern nervös sind und deshalb bereits am Vormittag den Stand leer kaufen? „Sie haben Angst, dass wir wegen Ostern im Lockdown nicht da sind. Aber natürlich sind wir da“, sagt Anderl.
Er versteht die Panik nicht. „Der Lebensmittelhandel war von den Schließungen sowieso noch nicht betroffen“ und am Markt selbst habe sich ein sicherer Modus herausgebildet. Währenddessen kommen und gehen die Stammkunden am Yppenplatz.
Mehr Umsatz
Nicht nur die Arge Rosenauerwald freut sich über mehr Kunden. Auch Suat Takan kann auf die Unterstützung seiner Kunden zählen. Sein Delikatessenstand am Wiener Kutschkermarkt verzeichnet zirka 30 bis 35 Prozent mehr Umsatz.
„Unser Markt war immer gut besucht. Unsere Kunden hier kaufen schon immer bewusst. Sie achten auf Regionalität, auf Slow Food, Qualität und Bio“, so Takan.
Aber ja, „es ist auf jeden Fall mehr geworden. Weil die Menschen die Marktbetreiber unterstützen möchten, zu denen sie eine Beziehung aufgebaut haben“, erzählt Takan im KURIER-Gespräch.
Und selbst das Feinkostgeschäft Pöhl am touristen verwaisten Naschmarkt vermerkt Zuwächse. Sie können durch die Kunden, die am Markt einkaufen das große Minus, das durch den Ausfall der Spitzengastronomie entsteht, zwar nicht ausgleichen aber zumindest verkleinern, erzählt Christian Pöhl, Besitzer von Pöhl am Naschmarkt.
Wo sich sonst Menschen durch die Zeilen schieben, kann man nun verweilen und schmökern. Trotzdem oder gerade deshalb: „Durch den Lockdown gibt es ein neues Bewusstsein.
Unsere Kunden gehen auf den Markt, um an der frischen Luft Regionales und Frisches einzukaufen. Anstatt sich im Supermarkt zu drängen“, so Pöhl im KURIER-Gespräch.
Partnerschaft, Freundschaft, Gemeinschaft
Fragt man die „Standler“, was ihren Markt auszeichnet, hört man an unterschiedlichen Orten der Stadt Ähnliches. Die Worte: Regionalität, Vielfalt und Qualität. So weit, so bekannt. Der Wert der Lebensmittelmärkte als regionale Nahversorger ist nach einem Jahr Pandemie unbestritten.
Man hört aber auch: Partnerschaft, Freundschaft, Gemeinschaft. Dinge, die im Social Distancing schmerzlich fehlen und die die besondere Beziehung zwischen den Standlern, ihren Nachbaren und Kunden ausmachen. Ist das der Grund, aus dem sich die Wiener Märkte solch Zulauf erfreuen?
Einkaufen als Erlebnis
Der Zuwachs hat mehre Gründe, weiß Soziologin Cornelia Dlabaja vom Institut für Europäische Ethnologie, Uni Wien. „Einkaufen am Markt ist ein Erlebnis. In Zeiten, in denen alles zu hat, ist das einer der wenigen Orte, an denen man etwas erleben kann.
Der Urlaubsflair zieht an, genauso wie das Einkaufserlebnis und das große Angebot an speziellen Lebensmitteln“, erklärt die Soziologin. „Die Spezialisierung und Regionalisierung der Lebensmittel gehören zum aktuellen Lifestyles. Es ist en vogue.“
"Wir sind Therapeuten"
Die Märkte erleben einen Bedeutungszuwachs, weil sie dem Zeitgeist entsprechen. Außerdem übernehmen sie in ihrem Grätzel eine wichtige soziale Rolle. Ihre Aufgabe kennen die Standler ganz genau. „Wir sind Therapeuten.
Ich erkenne sofort, wenn einen Kunden etwas belastet“, so Anderl. Gesagt getan, wenig später radelt eine Stammkundin vorbei. Was denn los sei, fragt Anderl. Sie schüttet ihr Herz aus, die Bestellung wird wie nebenbei absolviert. Dann fährt sie mit ihrem frischen Brot weiter.
Zurück am Bankerl neben dem Stand. Anderls Telefon läutet wieder. Ein Kunde ruft an, und fragt, welcher Speck aus dem Sortiment wohl am besten für ein bestimmtes Rezept passt.
„Es geht um die Persönlichkeit. Bei unseren anderen Standeln ist es auch so: Der, der am meisten von uns dort ist, ist dort der Chef, weil er für die Kunden aus der Gegend die Hauptbezugsperson ist“, erklärt Anderl.
Treffpunkt für Einheimische
„Wir wissen, was unsere Kunden anspricht. Können ihre Wünsche von den Augen ablesen. Wir kennen sogar ihre Allergien“, erklärt Suat Takan am rund 1,7 Kilometer entfernten Kutschkermarkt.
Und auch der aufgrund von Souvenierläden bei vielen Wienern in Ungnade gefallene Naschmarkt hat eine treue Community. „Der Naschmarkt ist ein Treffpunkt für Einheimische. Auch wenn er als Touristenattraktion von den Besucherzahlen vor dem Stephansdom liegt.
Die Kunden am Naschmarkt kennen einander, sie grüßen sich“, so Pöhl. „Auch wir kennen viele unsere Stammkunden schon seit Jahren. “ Und die Kunden kennen auch ihre Verkäufer. „Wenn die Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer stimmt, dann rennt ein Standl. Da können zehn andere Käsestände in der Gasse stehen. Jeder hat einen Lieblingsverkäufer“, so Anderl.
Von Konkurrenz will auf den Märkten niemand etwas hören. Auch innerhalb der Markttreibenden gibt es eine eigene Beziehung, berichten die Standler. Hier will man nur von Partnerschaft und Freundschaft sprechen.
Spätestens seit Corona gäbe es eine noch stärkere Solidarität. Fehden aus der Marktvergangenheit wollen vergessen sein. So profitiere der Naschmarkt seit Jahren von der Gastronomie, der Yppenmarkt von der Vielfalt des Brunnenmarkts und der Kutschkermarkt von seinen Mitbewerbern.
Was aber ist die Zukunft der Märkte? Ebbt der Zuwachs ab, sobald Normalität in die Welt außerhalb der Marktgebiete einkehrt? „Ich bin seit 30 Jahren hier am Naschmarkt. Der Markt ist immer im Wandel“, so Pöhl. Auch die Soziologin Dlabaja glaubt nicht an einen Rückgang. „Wo früher Sauerkraut war, isst man heute Kimchi. Die Spezialisierung wird zunehmen.“
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