Kostenfaktor Rückenschmerzen: Er kommt nicht nur von schlechten Sesseln

Chronisches Kreuzweh wird im Berufsalltag zu einer Belastungs- probe. Daher loht es, auch mögliche psychische Gründe zu hinterfragen
Rückenschmerzen werden für Mitarbeiter zur Belastungsprobe. Wie Führungskräfte ihnen den Rücken stärken können.

Kreuzwehland Österreich: Chronische Rückenleiden sind trotz Corona die Nummer Eins unter den gesundheitlichen Problemen. 1,9 Millionen Personen sind betroffen, meldet die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) unter Berufung auf eine repräsentative Gesundheitsbefragung der Statistik Austria. Gehören Rückenschmerzen zu Bildschirm-Berufen 2021 einfach dazu?

„Es wäre ein Trugschluss anzunehmen, dass Bildschirm-Berufe automatisch zu Rückenschmerzen führen müssen und diese verursachen“, meint dazu Birgit Paul, die langjährige wissenschaftliche, klinische und psychotherapeutische Erfahrung mit chronischen Schmerzpatienten hat. Die hohe Rate, so Paul, hat auch mit dem Versicherungssystemen und Bedingungen zu tun.

Rückenbeschwerden belasten aber nicht nur den Einzelnen, sondern auch kosten auch viel Geld. Laut ÖSG übersteigt dabei der volkswirtschaftliche Schaden die reinen Behandlungskosten um ein Vielfaches. Eine aktuelle deutsche Studie beziffert die durchschnittlichen Gesamtkosten pro Patient mit chronischen Rückenschmerzen mit 31.148 Euro pro Jahr: 8.862 Euro machten die direkten Krankheitskosten wie ärztliche Hilfe, Medikamente oder Spitalsaufenthalte aus.

Indirekte Kosten: 22.287 Euro

Die indirekten Kosten aufgrund von Krankenständen oder Arbeitslosigkeit betrugen mit 22.287 Euro nahezu das Dreifache – so der ÖSG in einer Aussendung. Rückenschmerzen sind also ein reales Problem, das im Berufsalltag für Mitarbeiter wie Führungskräfte zur Belastungsprobe und Kostenfrage wird. Aktuelle Studien weisen nun auf die Bedeutung psychischer Faktoren am Arbeitsplatz im Zusammenhang mit den Schmerzen hin. Eine Pilotstudie etwa fand einen Zusammenhang zwischen Rückenbeschwerden und der Sinnhaftigkeit der beruflichen Tätigkeit.

In der Untersuchung mussten 55 Angestellte einer Behörde Auskunft über ihren Berufsalltag und sich selbst geben. Es zeigte sich, dass Mitarbeiter, die einen Teil ihrer Aufgaben als unnötig empfanden, vermehrt über Rückenschmerzen klagen. Schmerzpsychotherapeutin Paul: „Schmerz ist stets Ausdruck von Verlust, diese Studie bezeugt die Auswirkungen eines stark empfundenen Wertverlustes.“

Mehr Eigenverantwortung

Forscher der Technischen Universität Dresden wieder fanden in einer aktuellen Studie heraus, dass auch erlebte Eigenverantwortung im Beruf sich positiv auf den Rücken auswirkt: Mitarbeiter mit größeren Handlungs- und Entscheidungsspielräumen berichten deutlich seltener von Schmerzen im unteren Rücken. Auch das Arbeitsklima scheint – im wahrsten Sinne des Wortes – Arbeitnehmern den Rücken zu stärken: Rückenschmerzen treten weniger oft auf, wenn die Befragten am Arbeitsplatz soziale Unterstützung erhalten.

"Aus meiner Sicht hat das mit der Sinnhaftigkeit von Arbeit zu tun. Durch Entscheidungsspielräume können Verbindungen zwischen dem Handeln und deren Konsequenzen hergestellt werden“, kommentiert Paul die Untersuchungen. Auch soziale Unterstützungen, so die klinische Psychologin, kann Sinnhaftigkeit sichtbar machen und zeigt eine Eingebundenheit ins Geschehen. Paul: „Es gibt das Gefühl, etwas Positives bewirken und beeinflussen zu können. Diese Verbindung kann bei Menschen mit Bildschirmarbeit verloren gehen. Dabei ist es weniger wichtig, wie weltbewegend die Wirkkraft ist. Vielmehr geht es um die Verbindung zu einem Bezugssystem und das Gefühl, beweglich handeln zu können.“

Schmerzen sind auch Kopfsache

Eine Beweglichkeit, die sich anscheinend auch auf den Rücken auswirkt. Dass trotz des Wissens um die Bedeutung der Psyche bei Rückenproblemen weiterhin meist Medikamente, bessere Büromöbel und Turnübungen verschrieben werden, scheint auch ein österreichisches Problem zu sein. „Bereits im Jahr 2000 hat es reichlich Daten gegeben, welche die Rolle psychischer Faktoren belegen und die Wichtigkeit eines bio-psycho-sozialen Behandlungsmodelles betonen.

In Österreich haben die Ergebnisse im Vergleich zu Deutschland nur schleppend seine Umsetzung gefunden. Die Zusammenhänge sind klar nachweisbar, sie würden nur eine komplexere Denkweise erfordert“, so Paul. Wobei sie betont, dass ein multiprofessioneller Ansatz, aus Medizin, Physiotherapie- und Psychologie am effizientesten wäre. Paul: „Daher sind angepasste Büromöbel, die gewechselt werden können und Gymnastikübungen sehr wichtig.“

Mehr Anerkennung und Unterstützung

Was aber können Führungskräfte tun, um ihren Mitarbeitern auch psychisch den Rücken zu stärken? „Die Umsetzung von betrieblichen gesundheitspsychologischen Maßnahmen steht und fällt meiner Meinung nach mit der Bereitschaft zum Einsatz und der Flexibilität der Führungskräfte. Allein dies zeugt von Wertschätzung“, so die Psychotherapeutin. Anerkennung und Unterstützung sollte freilich stets in Bezug zur Leistung stehen.

Paul: „Das bedeutet, die Anstrengung der Mitarbeiter auch ernst zu nehmen. Arbeit ist nun einmal keine Party, sondern bedeutet auch die Bereitschaft, sich anzustrengen und Verantwortung zu übernehmen.“ Und was rät sie Betroffenen, die vermuten, dass ihre Rückenschmerzen auch mit der psychischen Belastung und dem Stress am Arbeitsplatz zu tun haben könnten?

„Ich empfehle, spezialisierte psychologische Unterstützung. Denn eine Kenntnis der Psychologen oder Psychotherapeutinnen über medizinische Diagnosen- und Behandlungen ist erforderlich. Es gibt auch ambulante Wirbelsäulenprogramme der Kassen, die berufsbegleitend wahrgenommen werden können und die auch psychologische Beratung anbieten.“

"Schmerz ist ein politisches Thema"

Generell gilt es also bei Rückenschmerzen nicht nur den Bürosessel, sondern die Gesamtsituation im Auge zu behalten. Paul: „Die Eigenverantwortung, über bisherige Werte nachzudenken, und diese neu zu ordnen, liegt auch beim Arbeitnehmer. Auf dieser Basis kann herausgearbeitet werden, welche Veränderungen es benötigt, um am Arbeitsplatz handlungsfähig zu bleiben und sich entwickeln zu können. Auf jeden Fall ist es sinnvoll, diesen Veränderungsbedarf beim Vorgesetzten anzusprechen.“

Schmerz, so Paul, ist aber auch ein politisches Thema: „Schmerzen sind ein Problem der westlichen Industrieländer. Starre, rigide Werte und unikausale Zuordnungen können zu Bindungsverlust führen. Auch wenn sich die Möglichkeiten und Bedingungen im Berufsleben verändert haben und unüberschaubar erscheinen, bleibt eines sehr einfach: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Entwicklung.“

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