Offline ist Luxus: Warum Unerreichbarkeit das neue Statussymbol ist
Mein erstes Handy war ein Nokia 2110. In den frühen Neunzigern war das ein Statussymbol. Ich ließ ich mich gerne damit fotografieren. War auch unvermeidbar: Ich hatte es ständig in der Hand. Textend und telefonierend war ich der Stereotyp einer Internetpionierin: 24/7 im digitalen Weltrevolutionsstress; busy statt Bussi.
Ich war stolz auf meine ständige Erreichbarkeit. Heute verfluche ich sie. Nach einem Vierteljahrhundert an vorderster Digitalisierungsfront weiß ich: Nur Sklaven sind ständig erreichbar. Wer in Nanosekunden auf alles antwortet, ist unterbeschäftigt. Wer in Nanosekunden Antwort erwartet, ein Kontrollfreak. Sorry, not sorry.
Offline ist der neue Luxus
Mit der Gewissheit einer Internetveteranin und der Gelassenheit einer Digital Detox-Pionierin verspreche ich Ihnen: Offline ist der neue Luxus. Unerreichbarkeit ist in Zeiten entgrenzter Arbeitszeit mit ungebremster Informations- und Kommunikationsflut zum Luxusgut geworden.
Auch Geld, Autos und Wichtigkeitsstress haben als Statussymbole ausgedient. Zeit zählt, die ist unbezahlbar. Wer es heute geschafft hat, protzt nicht mit einer Uhr. Wer es heute geschafft hat, hat so viel Zeit, dass er sie nicht messen muss. Wer es heute geschafft hat, muss sein Handy nicht hundertmal am Tag checken. Wer es heute geschafft hat, kann im "Nicht stören"-Modus leben, denn er kann es sich leisten, nicht erreichbar zu sein.
Offline ist der neue Luxus. Für alle, die die Digitalisierung bis heute ignoriert haben und sich jetzt die Hände reiben, ist das eine schlechte Nachricht, denn: offline ist keine Alternative. Wer offline ist, weil er noch nicht oder nicht smart genug digitalisiert hat, ist genau so arm dran wie der Smartphonesklave, den Sie an seiner Smartwatch erkennen.
Wir versklaven uns selbst
Leider kein Scherz: Die Sklaven des 21. Jahrhunderts legen sich ihre Ketten selbst an. Mehr noch: Sie bezahlen Geld dafür und verwechseln den mit Dauerablenkung dealenden Datenstaubsager am Handgelenk mit einem Statussymbol. Ist das noch Evolution oder ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartet, wenn künstliche Intelligenz auf natürliche Dummheit trifft?
Hier kommt ein Upgrade: Um entspannt offline gehen zu können, müssen Sie kein smartes Gerät kaufen, Sie müssen das Digitale einfach nur smart nützen. Sympathisch formulierte Abwesenheitsnotizen, eine Website, die mehr Fragen beantwortet als man Ihnen stellen kann, das konsequente Ausschalten von Pushnachrichten und Kontrollfreakfunktionen wie die blauen Häkchen bei WhatsApp und eine individuelle Konfiguration des "Nicht stören"–Modus sichern Ihnen das Glück der Unerreichbarkeit.
Probieren Sie es aus und seien Sie sich gewiss: digitales Abschalten ist kein Trend. Abschalten ist wie Bremsen beim Autofahren: überlebenswichtig, Grundvoraussetzung für eine Fahrerlaubnis. Auf der digitalen Autobahn sind zu viele Menschen unterwegs, die nicht bremsen können. Die ohne Führerschein fahren und dabei auch noch am Handy daddeln – tipp, tipp, tot. Besser, Sie konfigurieren Ihr Handy heute noch smart und genießen fortan das Leben in digitaler Balance: selbstbestimmt und selbstbewusst – mit und ohne Phone.
Anitra Eggler schreibt ab sofort regelmäßig für den KURIER: "Anitras Ansichten" lesen Sie jeden Samstag im JOB Business. Kontakt: karriere@kurier.at
Anitra Eggler ist Bestsellerautorin, Internetveteranin und Digital-Detox-Pionierin. Als Vortragsrednerin zählt sie zu den gefragtesten Referentinnen unserer Zeit. Ihr aktueller Besteller "Mail halten! Die beste Selbstverteidigung gegen E-Mail-Wahnsinn, Handy-Terror und digitale Dauerablenkung" (erschienen im Like Publishing, 4. Auflage, 24,95 Euro) hilft mit über 100 Tipps, das Beste aus der Digitalisierung rauszuholen.
Das Internet-Ich der Autorin finden Sie hier: https://www.anitra-eggler.com. Das Live-Ich ist kommenden Mittwoch ab 18.30 in Wien zu sehen: https://radiokulturhaus.orf.at/artikel/656459/Digital-Detox
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