"Mit Menschen behutsam umgehen"

Wirtschaftspsychologe Bertolt Meyer
Wirtschaftspsychologe Bertolt Meyer fragt: "Was ist das für eine Gesellschaft, die die Alten rauswirft?".

KURIER: Warum soll die Gesundheit der Mitarbeiter – sofern es sich nicht um Arbeitsplatzsicherheit und Unfallvermeidung handelt – eine Angelegenheit der Firma sein?

Bertolt Meyer: Das ist eine Frage der Nachhaltigkeit und des Firmenerfolgs. In Zeiten des demografischen Wandelns und des Fachkräftemangels ist es sogar eine Frage des Überlebens. Wenn heute eine gut ausgebildete Fachkraft mit 45 Jahren ausscheidet, weil sie keine Kraft mehr hat, ist es nicht leicht, adäquaten Ersatz zu finden.

Sie glauben also wirklich an den Fachkräftemangel?

Ja. Er betrifft bestimmte Regionen, in bestimmten Branchen, in unterschiedlichem Ausmaß. Fragen Sie mal in Ingenieurbüros nach, wo man Spezialisten braucht. In Regionen, wo die Alterspyramide jetzt schon nach oben verschoben ist, ist der Mangel an Fachkräften eklatant. Und 2050 werden auf einen Pensionisten weniger als zwei aktive Arbeitnehmer kommen.

Die Statistik zeigt, dass die Arbeitsausfälle durch psychische Erkrankungen enorm zunehmen.

Das stimmt. Seit 2000 haben sich die Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland aufgrund von psychischen Erkrankungen mehr als verdoppelt. Das kostet über 47 Milliarden Euro im Jahr. Das wird zu einer ernsten finanziellen Belastung.

Aber der Umgang mit seinem Körper, seiner Seele ist doch etwas Höchstpersönliches.

Natürlich ist das so. Aber der durchschnittliche Arbeitnehmer verbringt die Hälfte seines wachen Tages mit Arbeit. Wir sprechen hier also von etwas, das unser Leben massiv einnimmt. Und natürlich beeinflussen die Dinge, die wir im sozialen System in der Arbeit erleben, unsere Gesundheit.

Wann ist Arbeit belastend?

Unterschiedliche Menschen reagieren auf Belastung unterschiedlich. Je nach den persönlichen Ressourcen. Unternehmen können Belastungen reduzieren und die Ressourcen ihrer Mitarbeiter erhöhen. Unterm Strich ist nicht die schwere Arbeit das Problem sondern Arbeit, mit der man nicht fertig wird. Wenn Anforderungen und Fähigkeiten zusammen passen, ergibt sich daraus ein guter Flow.

Stimmt die Aussage: Je älter Menschen sind, desto weniger belastbar sind sie?

Das kann man pauschal nicht sagen. Faktum ist: Die fluide Intelligenz – also Kombinationsfähigkeit, abstraktes Denkvermögen – nimmt ab 30 ab. Aber die kristalline Intelligenz – Wissen und Erfahrung – nimmt zu. Das kompensiert sich also. Unternehmen profitieren von Älteren, wenn sie ihr Erfahrungswissen nützen. Klar ist aber auch: ein Arbeiter, der körperlich stark gefordert ist, ist mit 55 nicht mehr so stark. Wir brauchen altersgerechte Arbeitsplätze. Ziel muss es sein, die Arbeit so zu gestalten, dass sie machbar ist, bis die Leute zur Pensionsreife kommen.

Menschen sollen künftig immer länger arbeiten. Ist das eine gute Idee?

Ja. Wenn die Arbeit für den Menschen Sinn und Freude macht. Statistisch gesehen lebt man für jedes Jahr mehr Arbeit 1,5 Jahre länger.

Warum?

Das lässt sich nicht so einfach erklären. Man glaubt, weil sie sich gebraucht fühlen, sozial integriert sind, ihre Hirnleistung trainieren, sich mehr bewegen und einen Tagesplan haben. Was man auch nicht vergessen darf: Wer arbeitet, hat im Schnitt pro Jahr 30.000 Euro mehr zur Verfügung als mit einer Pension.

Aber viele Betriebe haben die Älteren in den vergangenen Jahren rausgeworfen.

Mag sein. Aber was ist das für eine Gesellschaft, die die Älteren rauswirft, sie dem Sozialsystem zur Last legt? Das ist eine Privatisierung von Gewinn und eine Verallgemeinheitlichung von finanziellen Risiken. Es ist unfair, weil jahrzehntelang mit der Arbeitskraft Gewinn gemacht wurde. Wir sind gesellschaftlich gefragt, eine soziale Nachhaltigkeit an den Tag zu legen, müssen mit menschlichen Ressourcen behutsamer umzugehen. Die Unternehmen haben auch etwas davon: Gesunde Mitarbeiter sind die beste Werbung für eine Firma. Und bringen auch die höchste Leistungsfähigkeit über einen langen Zeitraum.

Gibt es dazu Zahlen?

Der Fahrzeugproduzent MAN hat die Kosten für sein Gesundheitsmanagement untersuchen lassen. Jeder investierte Euro kommt mindestens fünffach zurück. Weil es weniger Krankenstände, Frühpensionen, Ausfälle und mehr Produktivität gibt.

Die Gesundheit der Mitarbeiter ist auch eine Führungsaufgabe: Wieso versagen die Chef hier?

Versagen ist ein hartes Wort. Tatsache ist, dass viele Führungskräfte selbst stark belastet sind. Und oft wenig wissen, etwa beim Thema psychische Belastung – das ist immer noch ein Tabuthema.

Bertolt Meyer ist Professor für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Technischen Universität Chemnitz. Er ist studierter Psychologe, hat in Organisations- und Sozialpsychologie promoviert und zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst. Der 38-Jährige kam ohne linken Unterarm zur Welt. Er trägt seit zwei Jahren eine bionische High-Tech-Prothese und macht das Anderssein zu seinem Forschungsschwerpunkt. Konkret beschäftigt er sich vor allem mit Diversity, Gruppenleistung, Stereotypen und betrieblichem Gesundheitsmanagement.

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