Mit Hoffnung, Herz und Hirn
Es ist Mitternacht, als sich die Eltern von Mojtaba Tavakoli und seinem älterer Bruder verabschieden. "Wir sehen uns bald wieder, hab keine Angst, dein Bruder passt auf dich auf", besänftigen sie die aufbrechenden Kinder. In Mojtabas Reisetasche: etwas Essen, Trinken, eine Jacke. Ihre vier Geschwister schlafen, als die Jugendlichen – damals 13 und 18 Jahre alt – den Bauernhof in Ghazni, Afghanistan, verlassen. Die Familie gehört der verfolgten ethnischen Gruppe Hazara an, die Eltern haben entschieden, ihre Söhne in Sicherheit zu schicken. Sie selbst wollen später nachkommen. Das Ziel der Flucht? Ungewiss.
Die Brüder nehmen den Bus zur iranischen Grenze, passieren sie zu Fuß. Tagsüber verstecken sie sich, nachts gehen sie weiter. Sie vertrauen den Schleppern, denen sie 3000 Dollar gezahlt haben. Bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland werden sie voneinander getrennt. Sie dürfen nicht im selben Schlauchboot fahren. Das sei bei Familienmitgliedern üblich: Geht eines der Boote unter, überleben Angehörige. Zumindest ihnen bleibt die Chance auf die Flucht in ein besseres Leben.
Allein auf der Flucht
Mojtabas besseres Leben sollte noch auf sich warten lassen: In Griechenland kommt nur eines der Schlauchboote an. Sein Bruder erreicht das Ufer nicht. Mit 13 Jahren muss Mojtaba seine erschütternde Reise allein fortsetzen. Schlepper nehmen ihn mit nach Italien, Endstation ist Österreich. Was er damals nicht ahnt: Seine Eltern wird er erst drei Jahre später wieder finden. "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich außerhalb meiner Stadt alleine überleben kann", erzählt er.
Doch er schafft es. Tag für Tag geht es besser. Mojtaba erhält schnell einen positiven Asylantrag, kommt in einem Flüchtlingsheim für unbegleitete Minderjährige unter, findet Anschluss. Er hat Freude am Lernen und dass er in der Hauptschule in eine Klasse mit vielen heimischen Kindern kommt, fördert seine Sprachkenntnisse. In seinem ersten Zeugnis gibt es im Fach Deutsch ein Befriedigend. Sein großes Glück: Er wird Ziehsohn einer Patenfamilie. Durch sie lernt er heimische Werte und die Kultur kennen, sie zeigt ihm neue Perspektiven. "Sie haben mich richtig aufgenommen – ich hatte nicht mehr das Gefühl alleine zu sein, sondern war wieder Teil einer Familie. Ich verdanke ihnen so viel."
Seine echte Familie bleibt verschollen. Mojtaba sucht sie mit allen Mitteln. Er teilt Fotos von sich an andere Flüchtlinge, seine Freunde, aus. Sie sollen sich in ihren Bekanntenkreisen umhören, ob nicht irgendwer Mojtaba wieder erkennt. Die Mutter eines Freundes nimmt sein Bild in den Urlaub nach Pakistan mit und reicht es in einer Moschee herum. Es geschieht das Unglaubliche: Eine der dort betenden Frauen ist Mojtabas Großmutter. Sie erkennt ihn. 2010 kommt die gesamte Familie in Wien wieder zusammen – und bleibt. Mojtaba scheint das heute immer noch nicht fassen zu können: "Den Tag, an dem ich sie wieder gesehen hab’, kann ich nicht beschreiben. Dafür fehlen mir die Worte."
Vorbild für Flüchtlinge
Heute ist Mojtaba 22 Jahre alt. Seit 2013 studiert er Biologie mit Schwerpunkt Molekularbiologie an der Uni Wien, spricht perfekt Deutsch, Englisch und Dari, seine Muttersprache. Seine Matura hat er an Chemie HBLVA in Wien absolviert. Im Moment schreibt er an seiner Bachelorarbeit – in Englisch. Sein Thema: "Die Rolle von HSF1/2 in der Proliferation von Krebszellen". Im März will er sein Masterstudium beginnen, später einmal in der internationalen Forschung, im Bereich der Neurowissenschaften, arbeiten.
Zwischen seinem Weg und ihrem sieht Mojtaba Parallelen. "Wir haben sicherlich die gleichen Probleme. Nur brauchen diese Menschen jetzt viel mehr Energie als ich damals – die Zeiten haben sich verändert, die Gesellschaft ist, was die Flüchtlingsthematik betrifft, viel sensibler geworden. Viele sind überfordert."
Wichtig sei, dass die "neuen" Flüchtlinge schnell aktiv werden. Trotz der schwierigen, lähmenden Zeit, die sie durchmachen. "Es wird nicht lange dauern bis sie wieder zu einem normalen Leben übergehen. Sie müssen jetzt jede Chance auf Hilfe, vor allem Deutschkurse, annehmen."
Mojtaba möchte Österreich viel zurückgeben. "Für mich ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass ich hier leben und studieren kann." Mit dem Bildungssystem in Afghanistan könne man das hiesige nicht vergleichen – er ist dankbar für seine Chancen hier.
Er revanchiert sich, indem er sich für andere engagiert: 2010 gründet er mit befreundeten Flüchtlingen den Verein "Afghanische Jugendliche – Neuer Start in Österreich", in dem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge das heimische Bildungssystem kennenlernen. Er hält Integrations-Workshops an seiner alten Schule, übersetzt und engagiert sich in der "Interessensgemeinschaft Afghanischer Studierenden."
Mojtaba ist hier glücklich. Seine Eltern macht das stolz. Als Kinder haben sie kaum Bildungsmöglichkeiten gehabt. "Für sie war es jedoch immer von immenser Bedeutung, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung bekommen."
Kommentare