Leisure Sickness: Warum werden wir ausgerechnet im Urlaub krank?
Wenn Sie diese Zeilen während Ihres Urlaubs lesen, sind Sie hoffentlich bei bester Gesundheit. Können entspannen. Die Gedanken bei einer Aussicht auf den Wald oder das Meer schweifen lassen. Einfach mal nichts tun. Je länger Sie das schaffen, desto größer wird der Abstand zwischen Ihnen und dem Job – und damit Ihre Erholung.
Viele können das heute nicht. Nur wenige Stunden nach Urlaubsantritt pocht der Kopf und schmerzen die Glieder. Mit dem Schritt in den Flieger liegen sie schon flach und der Schüttelfrost übermannt sie ausgerechnet dann, wenn sie sich sonnen wollen. Zufällig passiert das nicht. Dahinter steckt das Phänomen „Leisure Sickness“, salopp auch Freizeitkrankheit genannt. Sie tritt dann ein, wenn wir aufhören zu arbeiten. Wenn Stress und Druck nachlassen und der Körper das Signal bekommt: jetzt darfst du entspannen.
Leisure Sickness - was ist das?
Dass dann oft genau das Gegenteil passiert, ist Fakt – wissenschaftlich aber noch so gut wie unerforscht. Leisure Sickness gilt auch (noch) nicht als Krankheit. Die wenigen Studien, die es zu dem Thema gibt, zeigen aber, dass immer mehr Menschen just zum Antritt ihres Urlaubs, am Wochenende oder in ihrer Freizeit von grippeähnlichen Symptomen überrollt werden.
Verglichen mit Untersuchungen, die dazu international 2002 und 2011 durchgeführt worden sind, zeigt sich in einer aktuellen Studie der österreichischen Privatuniversität UMIT und der deutschen IUBH Internationalen Hochschule, dass sich heute schon 26 Prozent der Bevölkerung betroffen fühlen.
„Wenn der Stress steigt, vernachlässigt man Körper und Psyche. Im Alltag bekommen manche das Gefühl, sie funktionieren nur mehr.“
Ein gesellschaftlich dringlicher werdendes Phänomen, denn es ist erwiesen, dass Herzinfarkte vermehrt an Wochenenden und in Urlauben auftreten. Das gehört erforscht, findet die Tiroler Landesregierung. Vor drei Wochen gab sie bekannt, die Erforschung der Freizeitkrankheit an der UMIT mit 150.000 Euro zu fördern.
Mit diesem Budget wird für drei Jahre eine Post-Doc-Stelle finanziert, die valide Daten sammeln soll, um definieren zu können, was Leisure Sickness ist und welche Risikofaktoren sie begünstigen. Im nächsten Schritt will man Handlungsempfehlung für Arbeitnehmer, Arbeitgeber aber auch für den heimischen Tourismus ableiten. Heuer im September wird die Postdoc-Stelle ausgeschrieben, im Jänner schon will die UMIT mit der Forschung starten.
Von Leistungsspitzen und Langzeiturlauben
Was wir heute schon wissen, ist: Wie wir arbeiten und entspannen, bestimmt, ob wir in der Freizeit erkranken. Wer sich ein Jahr lang von einer Leistungsspitze zur nächsten hangelt und sich vom dreiwöchigen Sommerurlaub den ultimativen Abstand und Energieschub erhofft, wird die freien Tage mit großer Wahrscheinlichkeit unter der Bettdecke statt unter der Sonne verbringen.
Das hat Cornelia Blank, stellvertretende Leiterin des Instituts für Sport-, Alpinmedizin und Gesundheitstourismus an der UMIT, im Zuge ihrer aktuellen Leisure Sickness-Studie herausgefunden. Dafür hat sie fünf Freizeittypen identifiziert. Je nachdem, welche Sorte der Freizeit wir eher leben, sind wir auch mehr oder weniger für die Leisure Sickness empfänglich.
Die fünf Freizeitkategorien sind:
- Arbeitsbezogene Freizeit – eine Zeit, in der wir für die Chefs erreichbar und gedanklich noch im Job sind.
- Eine Freizeit für Regeneration und Weiterbildung – auch die ist stark an die Arbeit geknüpft. Hier geht es um Ruhephasen im Feierabend oder freiwillige Weiterbildung, um besser im Job voranzukommen.
- Dritte Kategorie: Kindererziehung und Haushalt.
- Viertens: Freizeit, die im kompletten Kontrast zur Arbeit steht – wenn also etwa PC-Arbeiter Sport machen oder jene, die körperlich arbeiten, ein Buch lesen.
- Und in der fünften Kategorie unserer Freizeit tun wir tatsächlich nur das, worauf wir gerade Lust haben.
Studienautorin Blank kommt zum interessanten Schluss, dass Menschen, die sehr viel freie Freizeit haben, besonders anfällig sind, im Urlaub zu erkranken. Schuld daran sei die heutige Leistungsgesellschaft. „Wir haben verlernt, dass es ok ist, nichts zu tun. Wir haben ein schlechtes Gewissen und verplanen deshalb alles bis ins letzte Detail.“ Entspannung kann uns anstrengen. „Völlig unverplante freie Zeit senkt die Anfälligkeit fürs Kranksein nicht, sondern erhöht sie. Es scheint daher notwendig einen Mittelweg zu finden und eben auch das Nichtstun zuzulassen.“
Besonders anfällig für Leisure Sickness seien auch Karrieristen – eine Mischung aus den Typen eins und zwei. „Mein Bauchgefühl sagt: Selbstständige KMU-Unternehmer, deren Entscheidungen Auswirkungen auf ihre Existenz haben, sind möglicherweise mehr gefährdet als etwa Topmanager von großen Konzernen. Obwohl das Stresslevel und das Arbeitspensum vergleichbar sind.“
Wir, unter Druck
Immer mehr Arbeitnehmer, das zeigt der österreichische Fehlzeitenreport, fühlen sich heute unter Druck. Paradoxerweise steigt aber die Zahl der Krankenstandstage nicht. Aktuell liegt die in Österreich bei 12,5 Tagen pro Jahr – seit 2016 geht sie sogar zurück.
Das freut die Arbeitgeber. Arbeitspsychologen aber meinen: Sie geht deshalb zurück, weil sich Menschen nicht mehr trauen, bei Krankheit zu Hause zu bleiben. „Präsentismus“ nennt das die Fachwelt – mehr als die Hälfte der Österreicher geht laut Fehlzeitenreport mindestens ein Mal im Jahr arbeiten, obwohl sie das Bett hüten sollte.
Die Kränkelnden fühlen sich verantwortlich, es herrscht Personalmangel im Betrieb oder aber sie haben Angst, den Job zu verlieren. „Es scheint auch, dass manche Arbeitnehmer sich weniger krankschreiben lassen, weil das als Zeichen von Schwäche gesehen werden könnte“, resümiert Cornelia Blank.
„Immer mehr Menschen leben und arbeiten heute in diesen Durchhaltephasen“
Viele "halten durch"
Jeder Zweite nimmt Medikamente, um arbeiten zu können, 13 Prozent ignorieren sogar eine ärztliche Krankschreibung und kommen zur Arbeit, zeigt eine AK-Studie. „Immer mehr Menschen leben und arbeiten heute in diesen Durchhaltephasen“, sagt Neurobiologe und Managementtrainer Bernd Hufnagl (siehe Interview unten, Anm.).
Auf lange Sicht ist das Tempo der Arbeitswelt für viele schwer zu ertragen: Die Zahl der Krankenstandstage infolge psychischer Erkrankungen hat sich in Österreich seit Mitte der 90er-Jahre fast verdreifacht.
Eine Zahl, die Unternehmen sorgen müsste. Schließlich ist Humankapital immer noch ihr wertvollstes Kapital und Ausfälle in Folge von Stress und Druck kommen teuer.
Die Wirtschaft reagiert
Betriebliche Gesundheitsprojekte und eine Führung, die auf ihre Mitarbeiter schaut, seien notwendig, sagt die AK. Seit 2004 wurden immerhin mehr als eine halbe Million Arbeitsplätze in über 1.300 Betrieben gesünder gemacht und mit dem Betriebliche-Gesundheitsförderungs-Gütesiegel ausgezeichnet. Jeder Euro, der in die Gesundheit der Mitarbeiter investiert wird, kommt mindestens drei Mal zurück, zeigen Umfragen.
Auch das Thema Leisure Sickness ist in der Wirtschaft angekommen. In Tirol hofft man mit der startenden Erforschung an der UMIT einen Wettbewerbsvorteil im Tourismus zu bekommen. Mithilfe der Tiroler Hoteliers will man erheben, wie viele Gäste im Urlaub krank werden. Und mit speziellen Gesundheitsangeboten gegensteuern.
Neurobiologe Bernd Hufnagl erforscht hirngerechtes Arbeiten. Mit dem Phänomen des Krankwerdens im Urlaub ist er vertraut. Kurz nach dem KURIER-Interview ist er selbst auf Urlaub gefahren – und ist „top-fit“ geblieben, wie er einige Tage später per SMS wissen ließ.
KURIER: Herr Hufnagl, morgen ist Ihr letzter Arbeitstag, dann haben Sie Urlaub. Fürchten Sie, krank zu werden?
Bernd Hufnagl: Ja, weil meine Tochter gerade krank ist. Jeder, der Urlaub herbeisehnt, wünscht sich auf keinen Fall, krank zu werden.
Trotzdem passiert es vielen. Warum eigentlich?
Es sind schon viele Viren und Bakterien unterwegs. Aber diesen sind wir ja permanent ausgesetzt, in den meisten Fällen kommt unser Immunsystem auch wunderbar mit ihnen zurecht. Nur: Wenn wir in einem Durchhaltemodus arbeiten und leben – und das machen sehr viele Menschen –, werden bestimme Hormone produziert, die uns durchhalten lassen. Das Cortisol, das produziert wird, kann man auch als Kriegshormon unserer Vorfahren sehen. Immer dann, wenn wir das Gefühl hatten, dass wir uns nur mit maximaler Energieinvestition aufrechterhalten können, haben wir es produziert. Cortisol schützte uns vor Schürfwunden, Bisswunden, vor Verletzungen jeder Art. Es mobilisiert Energiereserven, lagert Fett als Reservestoff ein. Dieses Hormon macht also absolut Sinn. Aber nur für einen beschränkten Zeitraum.
Unser Körper bekommt im Job also das Signal, durchzuhalten. Arbeiten wir am Anschlag?
Wir leben in einer Welt ohne körperliche Bewegung, ohne Schürfwunden, ohne Action. Nur die wenigsten arbeiten körperlich, die meisten sitzen vor einer Tastatur. Dadurch bauen wir das Hormon nicht ab. Dadurch werden wir aber grundsätzlich auch weniger häufig krank – wir sind ja geschützt durch den Entzündungshemmer.
Wenn wir geschützt sind, warum erkranken wir ausgerechnet dann, wenn wir nicht arbeiten?
Weil das zentrale Nervensystem mitkriegt: Die Kriegssituation, der Stress, ist vorbei. Es sendet ein Signal an die Nebennierenrinde: Ich brauche das Cortisol nicht mehr. Und dann passiert eben, was passiert, wenn Menschen, die zu lange ein Medikament eingenommen haben, es absetzen: Es kommt zu einem Off-Effekt der bewirkt, dass Bakterien und Viren, die unterdrückt wurden, wachsen. Wir werden krank, weil unser Immunsystem in seiner schwachen Leistungsfähigkeit zu lange unterstützt worden ist und es durch die Urlaubssituation plötzlich zu einer Entlastungsreaktion kommt.
Müssen wir uns vor dem Urlaub jetzt fürchten?
Nein. Wir müssen nur verstehen, was diese Symptome bedeuten. Und uns überlegen: Bin ich im richtigen Job, habe ich die richtige Einstellung, manage ich meine Zeit richtig? Passen meine Regenerationsfähigkeiten zu meinem Energieaufwand? Ich merke, dass immer mehr Menschen die Urlaubszeit als reine Arbeitsunterbrechung empfinden – das ganze Leben wird zu einer Unterbrechung der Arbeitszeit. Dann beginnt man im Urlaub eMails zu checken, hört nicht mehr auf zu arbeiten.
Vielen macht ihre Arbeit Spaß. Ist eMail-Schauen schon eine schlechte Angewohnheit?
Es ist nicht die Menge an Arbeit, die mit der Überlastungsdepression korreliert. Es ist das subjektive Gefühl, etwas nicht bewältigen zu können, Opfer zu sein, Passagier seines eigenen Lebens zu sein.
Kann man Leisure Sickness vorbeugen?
Ja, mit ausreichend Bewegung, um Cortisol abzubauen und Abstand zum Job (siehe Kasten Seite 7). Wir beobachten aber auch, dass es Teams und Abteilungen gibt, wo immer dieselben Menschen die Hauptlast tragen. Das sind die High-performer, die, denen der Chef besonders vertraut. Sie ruft man auch im Urlaub an, man kann sich auf sie verlassen. Da muss man entgegensteuern. Es hat viel mit Leadership zu tun, ob ich als Führungskraft in der Lage bin, die Last anders zu verteilen. Denn es ist schon sehr bequem, sich zurückzulehnen und zu sagen: Dem Karl Heinz vertraue ich, der macht es schon – er sagt ja auch nie „Nein“. Hier sollten Unternehmen nicht zuschauen. Und: sie sollten ihre Mitarbeiter im Urlaub in Ruhe lassen. Und wenn die Chefs selber auf Urlaub sind, ihre Kollegen nicht mit eMails befeuern. Außer die Hütte brennt.
Wie entspannt und erholt man jetzt am besten?
Das ist für Sie anders als für mich. Es gibt Menschen, die in zehn Minuten Mittagspause im medizinischen Sinne besser regenerieren als jemand, der zwei Wochen in Caorle liegt, in die Luft schaut und nicht abschalten kann.
Wir leisten immer mehr, schalten immer schlechter ab, erkranken im Urlaub, psychische Krankheiten nehmen zu. Wie sehr sorgen diese Entwicklungen die Unternehmen?
Das sieht kein Unternehmen gerne. Die Krankenquote wird mit Argusaugen beobachtet. Manchmal wird aktionistisch ein bisschen was getan, oft sind es aber Lippenbekenntnisse. Nur ich würde eines in Abrede stellen: Das der Leistungsdruck groß ist. Es ist der Erfolgsdruck groß – das ist viel schlimmer. Wird nur der Erfolg, der Outcome, bewertet, werden aus Menschen Kennzahlen. Es geht nur mehr um Ebits und Gewinnmargen. Man erkennt den Beitrag, die Energieinvestition, die Anstrengung nicht. Damit wird alles relativiert. Führungskräfte sind gefordert, zu erkennen, was alles geleistet wird.
Wie bereiten Sie sich auf Ihren Urlaub vor?
Ich werde ins Auto steigen, heimfahren, packen. Und dann offline sein.
5 Tipps, um den Urlaub zu genießen
- Sanft wegfahren und zurückkehren Vor dem Urlaub wird meist unter Hochdruck gearbeitet, werden rasch noch Projekte zu Ende gebracht. Vorfreude? Eher Überstunden. Daher: „Stimmen Sie sich auf den Urlaub ein“, rät Arbeitspsychologin Claudia Altmann. „Einen Tag vor dem Urlaub und einen Tag danach fürs Zuhausesein einzuplanen, ist sinnvoll.“
- Rechtzeitig organisieren Wer Chefs und Kollegen den Urlaub frühzeitig ankündigt und sich um eine Übergabe kümmert, fährt stressfreier fort.
- Abstand gewinnen „Viele Menschen glauben, sie sind während ihrer Arbeit – was die körperlichen Reaktionen betrifft – im Krieg. Sie kriegen keine Außenperspektive von dem, was sie tun und erleben den Job als kaum bewältigbar, können nicht ,Nein‘ sagen, sind Perfektionisten, haben einen Kontrollzwang“, sagt Neurobiologe Bernd Hufnagl. „Da hilft vor allem eines: Abstand.“ Tagträumen, kurze Pausen im Job, ein Podcast in der Mittagspause – etwas, das im Alltag Freude macht.
- Sport einführen „Wenn ich unter Cortisol stehe – das Hormon lässt uns durchhalten–, muss ich Bewegung machen“, sagt Hufnagl. Je schneller das Herz schlägt und je größer die Anstrengung, desto besser bauen wir Cortisol ab.
- Abschalten Obwohl wir vom „Präsentismus“ getrieben sind und zeigen wollen, dass auch während des Urlaubs auf uns Verlass ist, empfehlen Experten, das berufliche Smartphone mit eMails stecken zu lassen. Ganz ohne schlechtes Gewissen: Man ist im Urlaub nicht verpflichtet, erreichbar zu sein.
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