Martha Schultz: Es ist wichtig, an vielen Schrauben zu drehen, damit wir hier endlich Fahrt aufnehmen. Die aktuelle Kinderbetreuungs-Statistik zeigt, dass trotz schleppender Annäherung an das Barcelona-Ziel, die Chancen, eine Vollzeitbeschäftigung wahrzunehmen, gesunken sind. Dass nicht einmal die Hälfte aller Plätze Eltern einen Vollzeit-Job ermöglicht, ist alarmierend und zeigt: wir brauchen in Sachen Kinderbetreuung und Kinderbildung einen Turbo. Auch Arbeitskräfte aus dem Ausland wägen genau ab, in welchen Ländern sie arbeiten wollen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist dabei ein entscheidender Faktor.
Was treibt Frauen in die Teilzeit?
Schultz: Wir wissen, dass 76 Prozent der Unternehmerinnen für die Familienarbeit hauptverantwortlich sind. Wir haben verkrustete Rollenbilder und müssen noch viel leisten, um sie zu verändern. Eine Studie der Julius-Raab-Stiftung hat ergeben, dass knapp 50 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass ein Kind leidet, wenn die Mutter berufstätig ist. Da liegen wir im europäischen Spitzenfeld. In Dänemark, wo die Kinderbetreuung gut funktioniert, sind es unter zehn Prozent.
Herlitschka: Wir sind in Österreich in einer Situation, wo das Thema nicht nur wichtig ist, sondern dringend. Wir haben einen massiven Arbeitskräftemangel und die Notwendigkeit, Kinder gut und früh zu betreuen und auszubilden.
In puncto frühkindlicher Betreuung hinkt Österreich hinterher. Was würde es bringen, die festgelegten EU-Ziele von 33 Prozent für unter Dreijährige zu erreichen?
Schultz: Selbst wenn wir die 33 Prozent bieten, kann aufgrund der Schließzeiten keiner vollen Beschäftigung nachgegangen werden. Es geht uns aber nicht nur um die unter Dreijährigen. Wir reden von Betreuung bis zum Ende des Pflichtschulalters. Und zwar ganztägig, ganzjährig, flächendeckend und leistbar. Denn oft ist es nicht die Kinderbetreuung, die Eltern teuer kommt, sondern etwa auch die Verpflegung.
Wie weit stehen Unternehmen in der Pflicht, selbst die Lücke im Betreuungsnetz zu schließen?
Herlitschka: Es geht dabei ja nicht nur um Kinderbetreuung, sondern vor allem um frühkindliche Bildung. Bildung ist schon eine öffentliche Aufgabe, überhaupt bei dem Steuerniveau, das wir in Österreich haben. Aufgrund des enormen Bedarfs haben viele Unternehmen eigene Initiativen gesetzt. Wir bei Infineon auch – mit unserer Kindertagesstätte haben wir 2012 begonnen und betreiben diese mit Partnern. Ganztägig und ganzjährig ist auch hier das zentrale Element, außerdem haben wir einen Schwerpunkt auf Naturwissenschaften und Technik. In diesen Bereichen ist es Österreich noch nicht gelungen, über die vergangenen Jahrzehnte ausreichend junge Menschen zu begeistern.
Schultz: Seitens unserer Unternehmerinnen und Unternehmer gibt es viele Initiativen, die unterstützt und nicht gebremst werden sollten. Schließen sich zwei oder drei Unternehmen zusammen, um Kinderbetreuung anzubieten, so ist dies für Mitarbeiter nicht steuerpflichtig. Besuchen jedoch Kinder „betriebsfremder“ Eltern die Betreuung, was im ländlichen Raum Sinn macht und oft vorkommt, kann dieser Vorteil für Mitarbeitende verlorengehen.
Wäre ein massiver Ausbau der Kindertagesheime überhaupt finanzierbar?
Herlitschka: Natürlich braucht es mehr Budget, besonders für die Ausbildung der Betreuungskräfte. Aber ein besseres Betreuungsnetz ist auch eine enorme Steigerung der Attraktivität der Gemeinden. Wir wissen, dass viele aus dem ländlichen Raum in die urbanen Zentren ziehen. Teleworking macht es jetzt möglich, in den Gemeinden zu bleiben. Nur kann neben dem Homeoffice keine Familienarbeit geleistet werden.
Schultz: Mit dem Finanzausgleich haben wir jetzt die Chance, die finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen und Gemeinde-übergreifend zu arbeiten. Tirol ist vorausgegangen, wo im Regierungsprogramm der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung verankert ist.
Sind sich Gemeinden dieses Attraktivitätsfaktors bewusst?
Schultz: Von Bürgermeistern höre ich oft, dass es keinen Bedarf gibt. Aber Angebot schafft Nachfrage. Habe ich kein Hotel, wird es auch keine Anfragen geben. Selbiges gilt für Betreuungsplätze. Meine Erfahrung zeigt: Wird ein Kinderbetreuungsangebot geschaffen, wird es angenommen und ist sogar schnell überbucht.
Letztlich bilden wir durch mehr Kinderbetreuungsplätze qualifizierte Arbeitskräfte von morgen aus.
Herlitschka: Viele Studien belegen, dass Kinder, die früh und gemeinsam beginnen zu lernen, später auch bessere Voraussetzungen haben. Da gibt es eine riesige Hebelwirkung. Auch finanziell wissen wir, dass jeder investierte Euro achtfach zurückkommt.
Die Pandemie brachte Rückschritte in der Gleichstellung. Mütter bleiben länger in Karenz, Väter nehmen sie weniger in Anspruch.
Herlitschka: Es ist eine Frage von Teilhabe und Chancengleichheit. Arbeiten Frauen viele Jahre Teilzeit, ist das ein extremes Risiko, irgendwann in der Armutsfalle zu landen. Ich halte schon viel von Eigenverantwortung und deswegen haben wir die Mission, pausenlos darauf aufmerksam zu machen.
Wiener Bauarbeiterinnen forderten in den 1870ern eine angemessene Kinderbetreuung. Fast zwei Jahrhunderte später, ist das Ziel immer noch nicht erreicht. Geht sich das bis zum Ende dieses Jahrhunderts noch aus?
Herlitschka: Steter Tropfen höhlt den Stein. Wir bleiben jedenfalls dran.
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