Job nach Feierabend: "Wir machens einfach"
Der schmale Gang im Keller des JUCA Wohnhauses im 16. Bezirk riecht nach Majoran und Zwiebel. An der Wand links stehen ein paar Hocker, ein kleiner Tisch mit Aschenbechern, rechts eine Heurigenbank. In der Industrieküche nebenan brodelt es. "Willst du abwaschen oder Brot schneiden?", ruft Andi und wischt sich die Hand zum Gruß im Geschirrtuch ab. Es ist halb fünf, Andi ist seit 16 Uhr hier. 350 Schüsseln gehören gewaschen, zwei große Kisten Brot vorbereitet, 230 Liter Linsensuppe gekocht – bis er mit seinen Kollegen um 19.15 Uhr mit zwei Bussen ausfährt, um die Mahlzeiten an hilfsbedürftige Menschen in ganz Wien zu bringen.
97 Freiwillige engagieren sich beim Canisibus der Caritas, insgesamt 15.000 Stunden im Monat arbeiten sie hier ehrenamtlich. Es gibt fixe Tages-Teams und viele Helfer, die auf Abruf da sind.
Donnerstags im Einsatz
Andi ist 29, Philosophie- und Literaturstudent und seit 2007 Freiwilliger beim Canisibus. Er ist Teil des Donnerstags-Teams, einer Truppe engagierter Menschen, die seit Jahren gemeinsam Suppe kocht und verteilt. Sie sind zusammengewachsen. "Man trifft hier Freunde", erzählt Kathie, 36 und Lehrerin, während der 17-Uhr-Kaffeepause am Gang. Sie ist seit 2006 dabei. "Ich habe mir sogar meinen Stundenplan so gedreht, dass ich Donnerstagabend herkommen kann. Wir freuen uns jede Woche alle aufeinander und auch auf die Bus-Gäste – nach so vielen Jahren kennt man sich auf der Straße schon."
Über ihre Ausfahrten kann sie unendlich viele Geschichten erzählen. Nicht immer sind sie schön. "Ich hör mir an, was die Leute beschäftigt – sonst haben sie ja niemanden. Das ist mein Beitrag." Manchmal macht sie das traurig, aber man kann nicht für alle verantwortlich sein, erklärt sie. "Man lernt dadurch sein Eigenes mehr zu schätzen." Oft bringt sie Gewand und Schuhe zum Canisibus mit, fragt auf der Straße nach, was man gerade so gebrauchen könne.
Denn die Situation draußen ist alles andere als rosig. "Es werden immer mehr Gäste", sagt Josef Heinzl, Koordinator des Projekts. Ohne Freiwillige würde es den Canisibus nicht geben. "Ich musste heuer aber leider auch schon Freiwillige ablehnen, weil wir im Moment so viele Anfragen haben."
Auch vom Donnerstags-Team sind heute zu viele da, alle elf können nicht bei den Touren mitfahren. Nach dem Beladen der Transporter, einem Teller Linsensuppe, einer Runde Tischfußball und einer Zigarette verabschiedet man sich wieder innig voneinander. Vier fahren nach Hause. Sieben steigen in die Busse.
Auf der Straße
Am Rücksitz erzählen Informatikstudent Marcellin, 24, Jusstudentin Nicole, 21 und der Selbstständige Fabian, 29, Geschichten von der Straße. Etwa die, als ein Mann beim Bus einmal alle mit einer Axt bedroht hat. Oder die von Passanten, die ihr freiwilliges Engagement verteufeln: "Füttert sie nicht auch noch, sonst gehen sie nie weg." "Wir werden öfter angestänkert, als dass sich wer bei uns bedankt", erklärt Fabian. Ein Umstand, mit dem man leben lernen müsse. Fahrer Philipp, 31 und Richter, hat den Polizei-Notruf daher auf Kurzwahl. Dank sei auf der Straße etwas, womit man eher nicht rechnen sollte. Ausnahmen bleiben lange in Erinnerung.
Philipp biegt von der Fahrbahn über den Randstein in den Park ein. 19.45 Uhr, erste Station Bahnhof Wien Meidling. Im Bus wird es still. Draußen ziehen Wolken auf. Im Park hat sich bereits eine Menschenschlange gebildet, der erste Gast – "das ist der Peter", – weist Philipp zum Parken ein.
Alle steigen aus. Binnen weniger Sekunden steht die mobile Suppenküche: eine Heurigenbank, ein 30-Liter-Fass Suppe, eine Brotkiste. Viele Gäste gehen mit ihrer Suppe in den Park. Einige suchen das Gespräch. Denn man kennt einander, plaudert, erkundigt sich nach dem Befinden, scherzt miteinander. Ohne Scheu, ohne Wertung. "Der Umgang ist ganz normal", sagt Philipp. "Warum auch nicht?" Ein Gast möchte sich selbst engagieren und fragt, wie das am besten geht.
Am Weg zur zweiten Station protokolliert Marcellin: 39 Gäste, zwei Frauen, keine Kinder. Danach ist wieder Zeit zum Reden. Man klärt auf: Niemand hier versteht sich durch die ehrenamtliche Arbeit als Weltverbesserer, keiner brüstet sich damit. Vielmehr herrscht im Bus Realismus: "Warum wir das machen, wissen wir eigentlich nicht mehr. Solange es Obdachlose gibt, fahren wir einfach", erklärt Philipp, der seit seinem Zivildienst 2003 beim Bus ist. "Am Anfang war ich schon noch Idealist, da hat einen noch vieles traurig gemacht", sagt Fabian, der 2006 zum Canisibus kam. "Aber Mitleid sollte man nicht haben – nur Verständnis."
Bei der nächsten Station, am Hauptbahnhof, nieselt es schon. Philipp parkt unter einer Brücke. Reden möchte hier keiner. Marcellin vermerkt 28 Personen und zwei Frauen. Zur dritten Station am Karlsplatz kommen 34 Personen, viele Frauen und Kinder. Bei der letzten Station, am Westbahnhof, ist es schon dunkel und kalt. Viele Gäste holen sich Nachschub. Die 90 Liter Suppe werden aufgegessen. Beim Zurückbringen der Schüsseln bedanken sich die meisten.
Afterwork
Es ist halb zwölf in der Nacht. Die zwei Busse stehen wieder eingeparkt im JUCA. Die 350 Suppenschüsseln liegen im Wasser zum Einweichen. Das Brot für die Ausfahrt am nächsten Abend taut am Tresen auf. Jeder Platz im schmalen Gang im Keller ist jetzt besetzt. Die ersten Bierdosen knacken. Die Runde hat sich viel zu erzählen. Man redet über den Peter aus Meidling, die Susi vom Karlsplatz, die vielen kleinen Kinder und den einen mit Kappe, der schon lange nicht mehr da war. Jede Gruppe hat nach so einem Tag ihre eigenen Rituale. Die einen würden beten, um aufzuarbeiten, erklärt Philipp. "Die Donnerstagsgruppe sitzt hinterher noch zusammen und trinkt ein Soda Zitron. Oder zwei."
In Österreich sind rund 46 Prozent der Menschen ab 15 Jahren, also etwa 3,3 Millionen, ehrenamtlich tätig. Das zeigt der „2. Freiwilligenbericht 2015“ des Sozialministeriums. Als ehrenamtlich versteht man grundsätzlich die freiwillige Übernahme einer Funktion, die regelmäßig und unentgeltlich außerhalb des eigenen Haushalts ausgeübt wird. Aber auch Zuwendungen von Stiftungen, Spenden von Privaten oder Unternehmen, Fundraising und Corporate Volunteering fallen unter diesen Begriff.
In Österreich engagieren sich laut aktuellem Bericht zwei Millionen Menschen formell, also in Vereinen, Institutionen oder Organisationen. 2,2 Millionen arbeiten informell freiwillig, also etwa im Rahmen der Nachbarschaftshilfe oder bei Reparaturen und handwerklichen Arbeiten. Die meisten (93 Prozent) engagieren sich, weil sie helfen wollen, Spaß an der Arbeit haben (88 Prozent) und etwas Nützliches zum Gemeinwohl beitragen möchten (85 Prozent). Frauen sind in der Freiwilligenarbeit fast gleich auf mit Männern (42 zu 49 Prozent). Männer fühlen sich jedoch mehr von Ehrenämtern angezogen, die ihnen zu einem besseren gesellschaftlichen Status verhelfen, heißt es im Bericht.
50 bis 59-Jährige engagieren sich am meisten, am wenigsten arbeiten die 30 bis 39-Jährigen ehrenamtlich. Je höher der Bildungsgrad, desto größer das Engagement: Mit Pflichtschulabschluss engagieren sich 35 Prozent, mit Hochschulabschluss bereits 61. Am aktivsten zeigen sich Landwirte, öffentlich Bedienstete und Selbstständige. Die beliebtesten Engagements sind die im Sport, in Kunst und Kultur und im Katastrophen- und Rettungsdienst.
Was Arbeit wert ist
Ende Juni veröffentlichte Gottfried Haber von der Donau-Universität Krems die Studie „Ökonomische Bedeutung der Gemeinnützigkeit in Österreich 2015“. Erstmals werden hier die freiwillig geleisteten Arbeitsstunden hochgerechnet und daraus die Gesamtwertschöpfung abgeleitet. Ein interessanter Aspekt unter vielen: Je höher das Haushaltseinkommen, desto größer das freiwillige Engagement. Da die Zahl der Freiwilligen je nach Definition und Datenquelle variiert, kommt Haber sogar auf vier Millionen Freiwillige in Österreich. Sie sollen mit bis zu zehn Milliarden Euro im Jahr zu Österreichs Wertschöpfung beitragen. „Mit dem unbezahlten Engagement wird die Arbeit von etwa 70.000 Jobs übernommen“, erklärt Haber. Würden die Freiwilligenzahlen sinken, wäre allerdings nur die Hälfte der Organisationen, Institutionen und Vereine in Österreich bereit, statt diesen fixe Mitarbeiter einzustellen, so der Freiwilligenbericht des Sozialministeriums.
Dem Arbeitsmarkt imponiert ehrenamtliches Engagement jedenfalls. Doch nicht jede Bewerbung verträgt diese Information, sagt Personalberaterin Charlotte Eblinger. „Gerade bei politischem Engagement kann man sich damit schnell ins Out schießen – man weiß nie, an welchem Tisch die Bewerbung landet.“ Sie empfiehlt zu prüfen, wie das Ehrenamt ins Wertekonstrukt des Unternehmens passt. „Und erst dann das Statement setzen.“
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