Geht uns die Arbeit aus, Herr Kopf?
Die Arbeitslosigkeit in Österreich steigt. Von Monat zu Monat, seit über vier Jahren auf aktuell 8,3 Prozent (391.417 Arbeitslose). Österreich rutschte in den vergangenen Monaten vom besten Platz in der EU auf Platz 5 ab. Und keine Prognose verspricht Besserung. Johannes Kopf ist seit neun Jahren Chef des Arbeitsmarktservice Österreich (AMS). Er glaubt zwar keinen Vorhersagen mehr, hält 500.000 Arbeitslose im Jänner aber für realistisch.
KURIER: Herr Kopf, geht uns die Arbeit aus?
Johannes Kopf: Das ist eine Diskussion, die es seit mehr als hundert Jahren, seit den Maschinenstürmern, gibt. Damals haben Dampfmaschinen die Webstühle ersetzt, Tausende Frauen wurden arbeitslos. Seither hat technische Innovation immer Arbeitsplätze vernichtet – trotzdem ist uns die Arbeit nicht ausgegangen. Was jetzt durch die Digitalisierung und Globalisierung passieren wird, weiß niemand genau, und ob wir künftig weniger Arbeit haben werden, auch nicht. Ich sage: Innovation ermöglicht neue Arbeitsfelder, an die wir bisher nie gedacht haben. Bestes Beispiel ist das Internet. Sicher ist aber auch: Es geht uns die Arbeit für unqualifizierte Menschen aus.
Wie lange wird die Arbeitslosigkeit noch steigen?
Wir haben das vierte Jahr in Folge ein Wachstum unter einem Prozent. Wir freuen uns zwar über einen Beschäftigungsrekord, müssen da aber schon relativieren: Wir haben massive Branchenverschiebungen. In der Industrie und im Bau fallen Vollzeitarbeitsplätze weg, dafür gibt es Zugewinne bei den Teilzeitjobs im Tourismus und im Handel. Wir haben steigende Beschäftigung, weil das Plus mehr ist als das Minus. Insgesamt haben wir aber zwischen 2011 und 2014 weniger Stunden gearbeitet, das wären rund 70.000 Vollzeitjobs. Die Kombination aus zu wenig Wirtschaftswachstum und einem massiv steigenden Arbeitskräftepotenzial ergibt die stark steigende Arbeitslosigkeit.
Ab welchem Wirtschaftswachstum würde die Arbeitslosigkeit sinken?
Früher glaubte man, bei zwei Prozent. Aktuell würden wir, bei dem Arbeitskräftepotenzial, etwa 3,5 Prozent brauchen. Das haben wir schon lange nicht: Und es ist auch bis 2019 nicht in Sicht. Aber ich glaube keiner Prognose bis 2019, es gibt zu viele Unsicherheiten.
Halten Sie zehn Prozent Arbeitslosigkeit für realistisch?
Ja.
Werden wir bald 500.000 Arbeitslose haben?
Das entscheidet die Frau Holle. Bei einem harten Winter mit viel Schnee könnten wir im Jänner dort sein.
Wieso hat Deutschland eine rückläufige Arbeitslosigkeit?
Weil sie in den vergangenen Jahren eine rückläufige Bevölkerung hatten. Und in Relation weniger Zuwanderung als Österreich. Deutschland hat 2014 520.000 Personen in Nettozuwanderung gehabt, Österreich 72.000. Und wir haben zudem viel mehr Pendler durch die Nähe von Wien zu Ungarn, Tschechien und der Slowakei.
Wieso finden Sie kein Mittel, um dieses Problem zu lösen?
Mit Arbeitsmarktpolitik kann man die Arbeitslosigkeit aktuell nicht senken. Das geht nur mit Konjunkturpolitik – und zwar in ganz Europa. Österreich hat zudem ein massives Vertrauensproblem: Unternehmen investieren nicht, weil die Stimmung schlecht ist.
Wir waren in der Europa-Rangliste immer ganz vorne, auf einmal sind wir abgerutscht. Warum?
Wieder: Weil das Wachstum fehlt und das Arbeitskräftepotenzial wächst. Noch ein Grund: Eurostat hat das Untersuchungsdesign geändert. Deshalb sind wir plötzlich um sechs Zehntel hinaufkorrigiert worden.
Welche Gruppe am österreichischen Arbeitsmarkt bereitet Ihnen am meisten Sorge?
Personen mit nur Pflichtschule. Da liegt die Arbeitslosigkeit schon bei 24 Prozent. Wo immer wir hinschauen, verschwinden die Jobs für die Ungelernten. Das ist auch ein Problem für schlecht ausgebildete Zuwanderer und Flüchtlinge: Für sie haben wir wenige Jobs.
Es sind nicht die Älteren, die Ihnen Sorge bereiten?
Nein. Ältere haben besonders nachhaltige Karrieren, bleiben viel länger in Betrieben, sie werden auch nicht schneller gekündigt. Da gibt es viele Vorurteile. Was stimmt, ist: Wenn sie arbeitslos sind, kommen sie schwer wieder zu einem Job.
Wien ist ein Sonderfall. Die Arbeitslosigkeit steigt hier sehr rasch, liegt bei 12,8 Prozent. Es gibt viel Zuzug und eine besonders hohe Ausländer-Arbeitslosigkeit.
Wien ist eine Riesenherausforderung. Auch wenn die Konjunktur anzieht, wird die Arbeitslosigkeit hier noch länger steigen. Weil Wien eine so starke Zuwanderung hat, dass die Jobs einfach fehlen. Auch von den Flüchtlingen sind zwei Drittel in Wien. Viele Zuwanderer sind unqualifiziert, weshalb das Problem der Arbeitslosigkeit auch so groß ist.
Kann das AMS die vielen Arbeitslosen noch ordentlich betreuen?
Unsere Organisation ist schon sehr belastet. Wir haben deutlich weniger Zeit für die Kunden als früher.
Zum Thema Flüchtlinge: Kann der österreichische Arbeitsmarkt den Zuzug verkraften?
Wir haben derzeit 20.000 Asylberechtigte arbeitslos gemeldet. Dass Flüchtlinge Österreicher auf dem Arbeitsmarkt verdrängen, sehe ich nicht. Sie werden zuerst einmal arbeitslos, weil sie die Sprache nicht sprechen, oftmals traumatisiert sind, in der Regel eine schlechte Ausbildung haben. Sie belasten in erster Linie den Sozialstaat, nicht den Arbeitsmarkt.
20.000 arbeitslose Asylberechtigte aktuell – wie will das AMS diese Menschen integrieren?
Es ist eine immense Herausforderung. Es wird Erfolgsgeschichten geben, aber das sind Einzelfälle. Die große Gruppe braucht fachliche Qualifikation und Deutschunterricht. Es wird bei vielen Jahre dauern, bis sie Arbeit finden. Wir haben derzeit das Pilotprojekt "Kompetenzcheck", in dem wir bei 1000 Flüchtlingen die Qualifikation untersuchen. Der Prozess dauert fünf Wochen, Ergebnisse gibt es Anfang Dezember.
Schulungen hat das AMS in den vergangenen Jahren stark zurückgefahren. Ein Fehler?
Für die Flüchtlinge hat man 70 Millionen Euro Sonderbudget zugesagt. Aber Österreich muss sparen. Unsere Mittel gesamt bleiben etwa gleich. Für die Qualifizierung der Menschen haben wir weniger Geld zur Verfügung. Natürlich könnte man mit mehr Geld mehr machen.
Sie sind seit neun Jahren AMS-Chef – seit vier Jahren steigt die Arbeitslosigkeit. Was lief falsch?
In dieser wirtschaftlichen Situation stößt die Arbeitsmarktpolitik an ihre Grenzen. Es ist eine harte, sehr belastende Zeit. Wir betreuen heute 100.000 Kunden mehr als 2008, haben weniger Zeit für das einzelne Anliegen. Da müssen wir noch besser werden.
Konkret in Zahlen: 2010 lag das Arbeitskräftepotenzial bei 3,61 Millionen Menschen, 2015 (von Jänner bis September) bei 3,83 Millionen Menschen. Jedes Jahr kommen zwischen 40.000 und 60.000 Menschen hinzu, die im Arbeitsprozess sind oder arbeiten wollen. Allein von 2014 auf 2015 stieg das Arbeitskräftepotenzial um 66.107 Personen (ein Plus von 1,73 Prozent).
Der Anstieg an potenziellen Arbeitskräften ist vor allem dem hohen Zuzug nach Österreich geschuldet – da sind Flüchtlinge noch nicht eingerechnet. Über 80 Prozent des Anstiegs des Arbeitskräftepotenzials geht laut Arbeitsmarktservice auf das Konto Zuzug – vor allem aus Deutschland und aus den östlichen Nachbarländern.
Hinzu kommen immer mehr Frauen, die arbeiten wollen und auch ältere Arbeitnehmer, die länger im Arbeitsprozess bleiben wollen bzw. müssen, weil die Türen zu Frühpension und weitgehend Invalidenpension geschlossen wurden. Laut Experten ist das eine „absolute Sondersituation“.
Während im ersten Halbjahr 2015 noch die meisten Asylberechtigten aus Afghanistan stammten, entfällt seit Juli 2015 der höchste Anteil auf Menschen aus Syrien. Die drei wichtigsten Herkunftsländer aktuell: Syrien (28,4 %), Afghanistan (23,4 %), Russland (16,3 %).
Drei Viertel aller beim AMS gemeldeten Asylberechtigten sind Männer, 28,1 % sind Jugendliche unter 25 Jahren. Fast 70 Prozent waren Ende September in Wien gemeldet.
Laut AMS haben 82,3 Prozent der aktuell gemeldeten arbeitslosen Asylberechtigten höchstens einen Pflichtschulabschluss, 14,7 Prozent eine dem österreichischen Lehrabschluss vergleichbare Ausbildung oder darüber hinaus.
Die aktuell steigende Anzahl der Asylanträge wird nicht unmittelbar am Arbeitsmarkt sichtbar, da Asylwerber vor einem Entscheid im Asylverfahren einen eingeschränkten Arbeitsmarktzugang haben, in den ersten drei Monaten überhaupt einem Beschäftigungsverbot unterliegen. 2015 rechnet man beim AMS mit zusätzlich rund 7000 arbeitslosen Asylberechtigten, 2016 mit 30.000. Ihre Integration ist nicht einfach. Sie müssen Deutsch lernen, eine Ausbildung bekommen. Wie lange die Integration in den Jobmarkt dauert? Eine Studie zeigt, dass nach fünf Jahren etwa die Hälfte der Asylberechtigten einer Arbeit nachgehen.
Auch für die nächsten Jahre sehen die Forschungsinstitute keine satten Erhöhungen – nirgendwo in Europa. Gedämpft sind die Wachstumsaussichten für die gesamte Weltwirtschaft, so das WIFO. Experte Stefan Schiman schreibt in seiner Prognose bis 2020: „Zwei negative Impulse verdienen besondere Beachtung. Die Unsicherheit im Euroraum, die Investitionen hemme, und die fragile Entwicklung der Schwellenländer.“
„Wenn es stimmt, dass unser Wachstum bis 2019 unter zwei Prozent pro Jahr bleibt, hat Österreich acht Jahre hindurch eine Entwicklung, die nicht reicht, um die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen“, erklärt Johannes Kopf die derzeitige Situation.
Eine aktuelle Studie der Wirtschaftsuniversität Wien zeigt: Der Standort Österreich verliert seit 2007 an Wettbewerbsfähigkeit. Seit 2000 sind die Nettoinvestitionen um 60 Prozent eingebrochen – von 13,5 Prozent auf mittlerweile 5,2 Prozent des BIP. Es kranke an fehlenden Reformen, erdrückenden Steuerbelastungen und hoher Inflation im Vergleich zu anderen EU-Ländern. In Folge sinken Investitionen und die Arbeitsproduktivität. Dieser giftige Mix drohe den Wohlstand der Österreicher zu erodieren, mahnt die Wirtschaftswissenschafterin Eva Pichler und verweist auf eine weitere Studie: Österreich sei im aktuellen „Global World Competitiveness Report 2014/2015“ bei der „Stärke des Investorenschutzes“ von 144 Ländern nur mehr auf Rang 83 zu finden.
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