Ehemaliger FBI-Agent im Interview:„Menschen lügen, um zu überleben“

Ehemaliger FBI-Agent im Interview:„Menschen lügen, um zu überleben“
Der FBI-Special-Agent und Experte für Körpersprache, Joe Navarro, erklärt, wie man Menschen lesen kann und welche Merkmale außergewöhnliche Menschen in sich tragen. Und: Was die Stimmlage der Autorin dieses Textes über sie verrät.

KURIER: Herr Navarro, Sie sind ein ehemaliger FBI-Special Agent. Bekannt wurden Sie als einer der führenden Körpersprache-Experten. Wie lernt man es, Menschen zu lesen?

Joe Navarro: Ich kam als Flüchtling mit acht Jahren aus Kuba in die USA und konnte die Sprache nicht. Die einzige Sprache, auf die ich mich verlassen konnte, war die Körpersprache. Ein Lächeln in Kuba heißt das Gleiche wie in den USA. Ich habe damals erlebt, dass Körpersprache immer die Wahrheit verrät. Ob Menschen dich mögen oder nicht, zeigen sie mit ihrem Körper. Als ich dann Kriminologie studiert habe, gab es kaum Bücher, keine Kurse über Körpersprache, weil sie nicht zu einer einzigen Wissenschaft zählt – sie ist Teil der Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Ethnologie, Anatomie, Geschichte. Ich habe alles gelesen, was ich konnte und habe mir ein robustes Verständnis über das menschliche Verhalten angelernt, das ich zum FBI mitbringen konnte.

Sie haben diese Fähigkeiten beim FBI 25 Jahre lang angewandt. 15 Jahre davon in einer Spezialeinheit. Gibt es ein körperliches Verhalten, das alle Kriminellen gemein haben?

Das ist eine einfache Frage. Nein (lacht). Sie müssen wissen, Menschen sind sehr komplex. Wir sind die Summe unserer Biologie. Wir haben die DNA unserer Eltern, sind aber auch Umwelteinflüssen ausgesetzt. Es gibt kein einzelnes Merkmal, das alle Kriminelle haben und sie entlarvt. Es gibt kein einzelnes Verhalten, das auf Täuschung hinweist. Es gibt viele Fernsehsendungen, die damit spielen. Aber es gibt keinen Pinocchio-Effekt.

Wie erkennen Sie es dann?

Im FBI – egal ob es das Opfer ist, das eine Straftat anzeigt oder der Verdächtige, der befragt wird – geht es nicht um die Frage, ob der eine lügt und der andere die Wahrheit sagt. Sondern darum, wie die Menschen auf Fragen reagieren. Antworten sie sofort? Macht ihnen die Frage Probleme? Was sehen wir? Beißen sie auf ihrer Lippe herum? Mahlen Sie mit ihrem Kiefer? Runzeln Sie die Glabella? (Anm. d. Red.: Bereich zwischen den Augenbrauen). Wenn Menschen das machen, zeigen Sie unbewusst, dass sie mit etwas Probleme haben. Danach suchen wir. Es ist ein Hinweis auf einen Stimulus, der diese körperliche Reaktion auslöst. Und wenn eine körperliche Reaktion erscheint, muss man sich fragen, wieso? Ich kann das deuten.

Das ist sehr spannend. Ist das eine Fähigkeit, die man nicht ein- oder ausschalten kann? Können Sie jemals aufhören, Menschen zu lesen?

Nein. Für mich ist das wie eine Software, es läuft im Hintergrund. Zum Beispiel höre ich Ihre Atmung, dadurch kann ich viel sagen. Alleine die Art, wie Sie gerade gesagt haben, dass es spannend ist. Sie haben den Satz auf einem höheren Ton beendet. Ich höre Sie und dadurch kann ich viel über Sie sagen. Sind Sie übrigens Linkshänderin?

Nein, ich bin Rechtshänderin.

Ja, das hab ich mir gedacht.

Wieso?

Nur aus Neugier. Aber man hört, sieht, beobachtet und dann wartet man auf Veränderungen im Verhalten. Ich kann das nicht abdrehen. Die Reaktionen zeigen, ob man auf der richtigen Spur ist.

Was können Sie denn jetzt über mich sagen? Über die Art, wie ich atme, spreche, mich ausdrücke? Sie haben mich gefragt, ob ich Links- oder Rechtshänderin bin. Warum?

Das war eine falsche Frage, ein Trick. Mit der Frage habe ich getestet, wie Sie auf etwas reagieren, das Sie nicht erwartet haben.

Und was können Sie über diesen kurzen Moment sagen?

Sie waren überrascht. Wenn Sie überrascht sind, wird Ihre Stimme etwas höher. Von Ihren Worten kann ich sagen, wie gebildet Sie sind. Von ihrem Akzent kann ich andere Dinge sagen. Aber wie Sie Worte sagen, verrät viel. Ich habe dieses Experiment gemacht, in dem Wissen, Sie würden es wieder aufgreifen. Durch die Art, wie Sie diese Worte gesagt haben, als Sie überrascht waren und wie Sie sie jetzt bei der Nachfrage wiederholen, kann ich den Unterschied in Ihrer Tonalität erkennen. Das ist eine Technik aus der Ermittlung, um herauszufinden, was die Norm Ihrer Stimme ist und wie Sie klingen, wenn etwas stressig ist.

Ich verstehe.

Sehen Sie. Alleine, wie Sie das nun gesagt haben. Sie haben das Wort „verstehe“ in die Länge gezogen. Das bedeutet, dass es Ihnen gefällt. Wir verlängern nichts, was wir nicht mögen. Ansonsten hätten Sie das Wort deutlich kürzer ausgesprochen.

Können Sie belogen werden?

Natürlich. Jedes Mal, wenn ich einen neuen Anzug kaufe. Der Verkäufer sagt, ich sehe gut aus. Aber nein, ich sehe nicht einmal annähernd gut darin aus. Ich sehe aus, wie ein Clown (lacht).

Aber Sie erkennen, wenn jemand Sie belügt?

Nein, das kann man niemals wissen. Wenn es Ihre Hauptsorge ist, ob Sie belogen werden, verschwenden Sie Lebenszeit. Menschen werden Sie belügen. Wir als Menschen müssen lügen, um sozial zu überleben. Wir mögen es nicht, wenn Menschen zu ehrlich sind. Deswegen sind wir so gut darin zu täuschen.

Was kann es dann bringen, Körpersprache lesen zu können?

Man erkennt, wie man die Gefühle, Interessen, Ängste und Sorgen anderer interpretieren kann. Körpersprache ist viel akkurater als das geschriebene Wort.

Inwiefern?

Sie müssten eine Weltklasse-Schauspielerin sein, um zu überzeugen. Wie viele Marlon Brandos, wie viele Meryl Streeps gibt es? Der Körper verrät unbewusst so viel.

Von Weltklasse-Schauspielern nun zu den Außergewöhnlichen. Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie außergewöhnliche Menschen sind und die fünf Hauptpunkte, die sie ausmachen. Kann denn jeder außergewöhnlich sein?

Mein Buch hilft, die Grundlage dafür zu legen. Man kann es nutzen und sehr genau einsetzen. Schauspieler, Reporter, Journalisten sollten das unbedingt beherrschen. Nun ja, eine Sache, die alle außergewöhnlichen Menschen haben, ist die Fähigkeit, andere Menschen zu lesen, andere zu verstehen. Man kann nicht wirklich empathisch sein, ohne die Körpersprache des anderen zu lesen. Außergewöhnliche Menschen können sehen, wenn andere einen schlechten Tag haben, deprimiert sind oder eine Umarmung brauchen. Die Durchschnittsperson wird das nicht merken. Dadurch verpasst man Gelegenheiten, das Leben für andere besser zu machen.

Welche sind denn die Merkmale oder Fähigkeiten, die eine außergewöhnliche Person ausmachen?

Selbstdisziplin, Kommunikationsfähigkeit, Beobachtungsgabe, Selbstbeherrschung. Leonardo da Vinci wäre heute zwar immer noch ein brillanter Künstler. Aber er wäre nicht außergewöhnlich, weil er nie Termine eingehalten hat. Außergewöhnliche Menschen halten sich immer an Verpflichtungen. Und der letzte Punkt ist die Fähigkeit, psychologisches Wohlbefinden zu generieren. Menschen suchen keine Perfektion, sie suchen Wohlbefinden. Jemand, der das bietet, weil er Menschen lesen kann und empathisch ist, ist einflussreich. Wie William Shakespeare schrieb, „so wird der sanftere Spieler der eheste Gewinner.“

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